Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Land mit eisigem Griff gepackt, weil der böse Muriat die schöne Prinzessin Sikita in einem kalten Kerker gefangen hielt. Aber eines Morgens kam der tapfere Prinz Bravato und befreite sie. Sikita war so froh, dass sie anfing, über die Wiesen zu tanzen, während sie ein Lied sang, das sie im kalten Kerker gedichtet hatte. Jetzt waren Erde und Bäume so gerührt, dass aller Schnee sich in Tränen verwandelte. Aber auch die Sonne erschien am Himmel und trocknete alle Tränen. Die Vögel übernahmen Sikitas Lied, und als die schöne Prinzessin ihre goldenen Haare löste, fielen einige Locken zu Boden, wo sie zu den Lilien auf dem Felde wurden ...
Sofie fand, sie habe eine schöne Geschichte gedichtet. Wenn sie keine andere Erklärung für den Wechsel der Jahreszeiten gehabt hätte, hätte sie sicher an ihre Dichtung geglaubt.
Sie begriff, dass die Menschen immer ein Bedürfnis nach Erklärungen für die Naturprozesse gehabt hatten. Vielleicht konnten die Menschen ohne solche Erklärungen nicht leben. Und deshalb hatten sie damals, als es noch keine Wissenschaft gab, die Mythen ersonnen.
Die Naturphilosophen
... von nichts kann nichts kommen ...
Als ihre Mutter an diesem Nachmittag von der Arbeit kam, saß Sofie auf der Hollywoodschaukel und fragte sich, welcher Zusammenhang wohl zwischen dem Philosophiekurs und Hilde Møller Knag, die nun keine Geburtstagskarte von ihrem Vater bekommen würde, bestehen könnte.
»Sofie!«, rief die Mutter schon von weitem. »Hier ist ein Brief für dich!«
Sofie fuhr zusammen. Sie hatte die Post doch selber hereingeholt, also musste der Brief vom Philosophen stammen. Was sollte sie ihrer Mutter sagen?
Langsam erhob sie sich aus der Hollywoodschaukel und ging ihrer Mutter entgegen.
»Er hat keine Briefmarke. Wahrscheinlich ein Liebesbrief.«
Sofie nahm ihn.
»Willst du ihn nicht aufmachen?«
Was sollte sie sagen?
»Hast du schon mal von Leuten gehört, die Liebesbriefe aufmachen, wenn ihre Mutter ihnen über die Schulter glotzt?«
Lieber sollte die Mutter wirklich glauben, dass es ein Liebesbrief war. Das war zwar schrecklich peinlich, denn Sofie war wohl noch ganz schön jung für Liebesbriefe, aber es wäre irgendwie noch peinlicher, wenn herauskäme, dass sie von einem wildfremden Philosophen, der zu allem Überfluss auch noch Katz und Maus mit ihr spielte, einen kompletten Fernkurs erhielt.
Es war einer der kleinen weißen Briefumschläge. Als Sofie auf ihrem Zimmer war, las sie die drei Fragen auf dem Zettel, den der Umschlag enthielt:
Gibt es einen Urstoff, aus dem alles gemacht ist?
Kann Wasser zu Wein werden?
Wie können Erde und Wasser zu einem lebendigen Frosch werden?
Sofie fand diese Fragen ganz schön verrückt, aber sie wirbelten ihr doch den ganzen Abend im Kopf herum. Auch am nächsten Morgen in der Schule nahm sie sich in Gedanken die drei Fragen der Reihe nach vor.
Ob es einen »Urstoff« gab, aus dem alles gemacht war? Aber wenn es irgendeinen »Stoff« gab, aus dem alles auf der ganzen Welt hergestellt war, wie konnte sich dieser Stoff dann plötzlich in eine Butterblume oder vielleicht auch in einen Elefanten verwandeln?
Ähnlich war es mit der Frage, ob Wasser zu Wein werden könne. Sofie hatte ja gehört, dass Jesus Wasser in Wein verwandelt habe, aber diese Geschichte hatte sie nicht buchstäblich aufgefasst. Und wenn Jesus wirklich Wasser in Wein verwandelt hatte, dann war das ein Wunder und damit etwas, das eigentlich nicht möglich war. Sofie war sich darüber im Klaren, dass es im Wein und überhaupt fast überall in der Natur sehr viel Wasser gab. Aber auch wenn eine Gurke zu 95 Prozent aus Wasser bestand, so gehörte doch noch etwas anderes dazu, um eine Gurke eine Gurke sein zu lassen, und nicht bloß Wasser.
Und dann war da noch die Sache mit dem Frosch. Ihr Philosophielehrer hatte es überhaupt auffällig mit Fröschen. Sofie konnte eventuell hinnehmen, dass ein Frosch aus Erde und Wasser bestand, aber dann konnte die Erde nicht nur aus einem Stoff gemacht sein. Wenn die Erde aus vielen verschiedenen Stoffen bestand, war es natürlich vorstellbar, dass Erde und Wasser zusammen einen Frosch ergaben. Wenn Erde und Wasser den Umweg über Froschlaich und Kaulquappen machten, wohlgemerkt. Denn ein Frosch konnte nicht einfach in einem Küchengarten wachsen, auch wenn man sehr gewissenhaft goss.
Als sie an diesem Nachmittag aus der Schule nach Hause kam, lag ein dicker Brief an sie im Briefkasten. Sofie ging in die Höhle, wie sie das
Weitere Kostenlose Bücher