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Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Titel: Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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abkühlt und sich zu Wassertropfen verdichtet, die aufgrund der Schwerkraft zu Boden fallen. Aristoteles hätte anerkennend genickt. Aber er hätte hinzugefügt, dass du bisher erst drei Ursachen genannt hast. Die »stoffliche Ursache« oder Materialursache ist die Tatsache, dass der aktuelle Wasserdampf (die Wolken) gerade da war, als die Luft kalt wurde. Die »bewirkende Ursache« oder Wirkursache ist, dass der Wasserdampf abkühlt, und die »formale Ursache« oder Formursache ist, dass es nun einmal die »Form« oder die Natur des Wassers ist, auf den Boden zu platschen. Wenn du nicht mehr gesagt hättest, dann würde Aristoteles hinzufügen, dass es regnet, weil Pflanzen und Tiere zum Wachsen Regenwasser brauchen. Das hat er mit Zweckursache gemeint. Wie du siehst, hat Aristoteles plötzlich den Wassertropfen eine Art Lebensaufgabe oder »Absicht« zugeteilt.
    Wir würden wohl das Ganze auf den Kopf stellen und sagen, die Pflanzen wachsen, weil es Feuchtigkeit gibt. Siehst du diesen Unterschied, Sofie? Aristoteles glaubte, dass es überall in der Natur eine Zweckmäßigkeit gibt. Es regnet, damit die Pflanzen wachsen, und Apfelsinen und Trauben wachsen, damit die Menschen sie essen.
    So denkt die Wissenschaft heute nicht mehr. Wir sagen, Nahrung und Feuchtigkeit seien Bedingungen dafür, dass Menschen und Tiere leben können. Ohne diese Bedingungen würden wir nicht existieren. Aber es ist nicht die Absicht von Apfelsinen oder Wasser, uns zu ernähren.
    Was seine Lehre von den Ursachen angeht, könnten wir uns also versucht fühlen zu behaupten, dass Aristoteles sich geirrt hat, aber wir wollen nichts übereilen. Viele Menschen glauben, Gott habe die Welt geschaffen, damit Menschen und Tiere hier leben können. Vor diesem Hintergrund lässt sich natürlich auch behaupten, dass in den Flüssen Wasser fließt, weil Menschen und Tiere zum Leben Wasser brauchen. Aber dann reden wir von Gottes Zweck oder Absicht. Nicht die Regentropfen oder das Flusswasser sind uns wohlgesonnen.
Logik
    Der Unterschied zwischen »Form« und »Stoff« spielt auch eine wichtige Rolle, wenn Aristoteles beschreibt, wie der Mensch die Dinge auf der Welt erkennt.
    Wenn wir etwas erkennen, dann ordnen wir die Dinge in verschiedene Gruppen oder Kategorien ein. Ich sehe ein Pferd, dann sehe ich noch ein Pferd – und dann noch eins. Die Pferde sind nicht ganz gleich, aber es gibt etwas , das allen Pferden gemeinsam ist, und das, was allen Pferden gemeinsam ist, ist die »Form« des Pferdes. Was unterschiedlich oder individuell ist, gehört zum »Stoff« des Pferdes.
    So wandern wir Menschen durch die Welt und sortieren die Dinge in verschiedene Schubladen ein. Wir platzieren die Kühe in den Kuhstall, die Pferde in den Pferdestall, die Schweine in den Schweinekoben und die Hühner auf den Hühnerhof. Dasselbe passiert, wenn Sofie Amundsen ihr Zimmer aufräumt. Sie stellt die Bücher ins Bücherregal, steckt die Schulbücher in die Schultasche und die Zeitungen in die Kommodenschublade. Die Kleider werden ordentlich zusammengefaltet – die Unterhosen in ein Fach, die Pullover in ein anderes und die Socken in eine Schublade. Merke dir, dass wir in unseren Köpfen dasselbe machen: Wir unterscheiden zwischen Dingen, die aus Stein gemacht sind, Dingen aus Wolle und Dingen aus Gummi. Wir unterscheiden lebendige und tote Gegenstände und wir unterscheiden zwischen »Pflanzen«, »Tieren« und »Menschen«.
    Kommst du mit, Sofie? Aristoteles wollte also im Mädchenzimmer der Natur gründlich aufräumen. Er versuchte nachzuweisen, dass alle Dinge in der Natur zu verschiedenen Gruppen und Untergruppen gehören. (Hermes ist ein lebendes Wesen, genauer gesagt: ein Tier, genauer gesagt: ein Wirbeltier, genauer gesagt: ein Säugetier, genauer gesagt: ein Hund, genauer gesagt: ein Labrador, genauer gesagt: ein Labradormännchen.)
    Geh auf dein Zimmer, Sofie. Nimm irgendeinen Gegenstand vom Boden hoch. Egal, was du auch aufhebst, du wirst entdecken, dass das, was du berührst, zu einer höheren Ordnung gehört. An dem Tag, an dem du etwas siehst, was du nicht klassifizieren kannst, erleidest du einen Schock. Wenn du zum Beispiel ein kleines Dingsbums entdecktest, von dem du nicht mit Sicherheit sagen könntest, ob es zum Pflanzenreich, zum Tierreich oder zum Mineralreich gehört – ja, ich glaube, du würdest nicht wagen, es anzufassen.
    Pflanzenreich, Tierreich und Mineralreich, habe ich gesagt. Ich denke an dieses Gesellschaftsspiel, wo ein armes

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