Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
und einem Pferd. Und ich möchte auch meinen, dass zwischen einem Pferd und einem Menschen ein wesentlicher Unterschied besteht. Aber worin genau liegen diese Unterschiede? Kannst du mir das beantworten?
Ich habe leider nicht die Zeit, abzuwarten, bis du die Antwort aufgeschrieben und zusammen mit einem Stück Zucker in einen rosa Briefumschlag gesteckt hast, deshalb antworte ich lieber gleich selber. Wenn Aristoteles die Naturphänomene in verschiedene Gruppen einteilt, dann geht er von den Eigenschaften der Dinge aus, genauer gesagt, was sie können oder was sie tun .
Alles Lebendige (Pflanzen, Tiere und Menschen) hat die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen, zu wachsen und sich zu vermehren. Tiere und Menschen haben außerdem die Fähigkeit, ihre Umwelt zu fühlen und sich in der Natur zu bewegen. Alle Menschen haben dazu die Fähigkeit, zu denken – oder eben ihre Sinneseindrücke zu verschiedenen Gruppen und Klassen zu ordnen.
Auf diese Weise gibt es in der Natur tatsächlich keine wirklich scharfen Grenzen. Wir sehen einen gleitenden Übergang von einfachen zu komplizierten Pflanzen, von einfachen Tieren zu komplizierteren Tieren. Ganz oben auf dieser »Trittleiter« steht der Mensch – der laut Aristoteles das ganze Leben der Natur lebt. Der Mensch wächst und nimmt Nahrung zu sich wie die Pflanzen, er hat Gefühle und die Fähigkeit, sich zu bewegen, wie die Tiere, aber er hat dazu noch eine ganz besondere Eigenschaft, über die nur der Mensch verfügt, nämlich die Fähigkeit, rational zu denken.
Und damit besitzt der Mensch einen Funken der göttlichen Vernunft, Sofie. Ja, ich habe »göttlich« gesagt. An einigen Stellen erklärt Aristoteles, dass es einen Gott geben müsse, der alle Bewegungen in der Natur in Gang gesetzt hat. Und so wird Gott zum absoluten Gipfel auf der Trittleiter der Natur.
Aristoteles stellte sich vor, dass die Bewegungen der Sterne und Planeten die Bewegungen hier auf der Erde leiten. Aber irgendetwas muss auch die Himmelskörper bewegen. Dieses Etwas nannte Aristoteles den ersten Beweger oder Gott . Der erste Beweger bewegt sich selber nicht, ist aber die erste Ursache der Bewegungen der Himmelskörper und damit aller Bewegungen in der Natur.
Ethik
Kehren wir zum Menschen zurück, Sofie. Die »Form« des Menschen ist laut Aristoteles, dass er sowohl eine »Pflanzenseele« als auch eine »Tierseele« und eine »Vernunftseele« hat. Und nun fragt er: Wie soll der Mensch leben? Was braucht der Mensch, um ein gutes Leben zu führen?
Ich kann kurz antworten: Der Mensch wird nur glücklich, wenn er alle seine Fähigkeiten und Möglichkeiten entfalten und benutzen kann.
Aristoteles glaubte an drei Formen des Glücks: Die erste Form des Glücks ist ein Leben der Lust und der Vergnügungen. Die zweite Form des Glücks ist ein Leben als freier, verantwortlicher Bürger. Die dritte Form des Glücks ist das Leben als Forscher und Philosoph.
Aristoteles betont, dass alle drei Formen zusammengehören, damit der Mensch ein glückliches Leben führen kann. Er lehnte also jede Form der Einseitigkeit ab. Wenn er heute lebte, würde er vielleicht sagen, dass ein Mensch, der nur seinen Körper pflegt, ebenso einseitig – und damit mangelhaft – lebt wie einer, der nur den Kopf benutzt. Beide Extreme sind Ausdruck einer verfehlten Lebensführung.
Auch was die Tugenden betrifft, verwies Aristoteles auf einen »goldenen Mittelweg«. Wir sollen weder feige noch tollkühn sein, sondern tapfer . (Zu wenig Tapferkeit bedeutet Feigheit, zu viel Tapferkeit Tollkühnheit.) Auch sollen wir weder geizig noch verschwenderisch sein, sondern großzügig . (Zu wenig großzügig sein ist Geiz, zu großzügig sein Verschwendung.)
Ebenso steht es mit dem Essen. Zu wenig essen ist gefährlich, aber auch zu viel essen ist gefährlich. Die Ethik von Platon und Aristoteles erinnert an die griechische medizinische Wissenschaft: Nur durch Gleichgewicht und Mäßigung werde ich ein glücklicher oder »harmonischer« Mensch.
Politik
Dass der Mensch nichts im Leben übertreiben darf, kommt auch in Aristoteles’ Gesellschaftssicht zum Ausdruck. Er bezeichnete den Menschen als »politisches Wesen«. Ohne die Gesellschaft um uns herum sind wir gar keine richtigen Menschen, meinte er. Dabei können Familie und Dorf niedrigere Lebensbedürfnisse wie Nahrung und Wärme, Ehe und Kinderaufzucht befriedigen. Aber die höchste Form menschlicher Gemeinschaft kann Aristoteles zufolge nur der Staat sein.
Darauf erhebt sich die
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