Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
Hartungsche Zeitung . »Es war ein schrecklicher Unfall.«
»Nein, ich will es nicht lesen! Es darf nicht sein, nicht Albert und Ida.« Ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Einige Gäste sahen bereits neugierig zu ihnen herüber. »Bitte, Herr von Orlov, würden Sie mich in mein Abteil begleiten?« Schwankend erhob sie sich. »Ich schaffe es nicht allein.« Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen.
Orlov sprang sofort auf. »Aber selbstverständlich. Kommen Sie.« Fürsorglich legte er den Arm um sie und begleitete sie unter den erstaunten Blicken der Anwesenden hinaus.
In ihrem Abteil verlor sie ihre mühsam bewahrte Fassung. Sie brach in hemmungsloses Schluchzen aus. »Ida ist … war meine beste Freundin. Wir waren wie Schwestern … seit unserer Kindheit.« Weinend lag sie an der Brust dieses fremden Mannes. »Was ist denn um Himmels willen passiert? Wieso sind denn beide tot? Mein Gott, die armen Kinder!«
»Ich weiß auch nur, was in der Zeitung steht. Sie waren wohl auf Gut Harpenthal bei Alberts Bruder Hermann …«
»Ich weiß, da sind sie immer am Ostermontag …«
»… ja, und eigentlich wollten sie am Abend nach Insterburg zurückfahren«, fuhr Orlov fort, »aber es gab einen Schneesturm, und sie mussten dort übernachten. Am nächsten Morgen lagen sie tot in ihren Betten.« Auch er hatte jetzt Tränen in den Augen. »Man vermutet eine Vergiftung durch Kohlenmonoxid.« Er hielt Feodora fest an sich gedrückt. Immer wieder wischte er ihr mit seinem Taschentuch die Tränen ab, die nicht versiegen wollten. Mein Gott, was tue ich da? , dachte er. Ich halte eine fremde Frau in den Armen und tröste sie, als wäre es das Normalste der Welt.
Feodora fühlte Ähnliches. Es schien ihr wie früher, vor einer Ewigkeit, als Klaus sie tröstete, wenn sie an seiner Brust über ihr häusliches Elend weinte.
Orlov hatte sein Gepäck in Feodoras Abteil bringen lassen, und dann redeten sie und redeten, und irgendwann schlief sie an seiner Schulter ein. Ab und an schreckte sie auf, wenn mit der Erinnerung die Tränen kamen.
»Ruhig«, flüsterte er dann leise, »ganz ruhig.«
Und sie schlief wieder ein mit einem Gefühl, das sie noch nicht wagte zuzulassen.
Obwohl Feodora den ersten Zug von Königsberg nach Insterburg genommen hatte, kam sie zu spät, um ihre Freunde noch einmal zu sehen. Die Särge waren bereits geschlossen und in die Freimaurerloge verbracht worden, wo um drei Uhr die Trauerfeier stattfinden sollte. Anschließend sollten beide auf dem Friedhof der Reformierten Kirche bestattet werden.
Als Feodora in der Villa am Garwehner See ankam, war die Halle bereits voll mit Kondolenzbesuchern. Zwei von Alberts Geschwistern nahmen die Beileidsbezeugungen entgegen, und vor dem Haus stand noch eine nicht enden wollende Schlange schwarz gekleideter Menschen, die der Familie ihr Mitgefühl ausdrücken wollten.
»Feda, da bist du ja!« Alberts Bruder Hermann drückte sie an sich. »Wie hast du es erfahren? Wir wussten nicht, wo wir dich benachrichtigen sollten.«
»Später«, sagte Feodora mit erstickter Stimme. »Wo sind die anderen?«
»Im Frühstückszimmer. Wir haben ja alle seit Tagen kaum etwas gegessen.«
Bei der Begrüßung flossen wieder Tränen, aber alle langten kräftig zu, und auch bei Feodora regte sich jetzt der Hunger. Es musste mehr als zwanzig Stunden her sein, dass sie etwas zu sich genommen hatte.
Sie setzte sich neben Hermanns Frau Grete, die mit rot geweinten Augen vor sich hin starrte. »Grete, Liebes.« Feodora nahm sie liebevoll in den Arm. »Ich weiß, wie sehr du Ida geliebt hast. Wir haben beide unsere beste Freundin verloren.«Sie schwiegen eine Weile. Es gab keine Worte für das Schreckliche. »Grete, kommst du für einen Moment mit mir in Idas Boudoir? Ich möchte mich einen Moment hinlegen. Ich komme ja direkt aus Berlin.«
Sobald sie allein waren, brach es aus Feodora heraus. »Gretchen, ich muss dir etwas anvertrauen.«
Grete sah sie erstaunt an. Was konnte das wohl sein?
»Ich habe gestern im Zug Hajo von Orlov kennengelernt. Von ihm habe ich auch die furchtbare Nachricht erfahren.«
»Ja, und?« Was sollte denn daran so vertraulich sein?
»Ich glaube … nein, ich bin mir ganz sicher … ich habe mich verliebt. Ich dachte, dass mir das niemals passieren würde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es in mir aussieht!«
»Aber das ist doch wunderbar, Feda.« Für einen Moment vergaß Grete ihren Schmerz, und ein
Weitere Kostenlose Bücher