Solange du schläfst
Tanja. Vielen Dank auch dafür, dachte ich grimmig.
Ich starrte sie fassungslos an und rauschte dann aus dem Bus. Doch Jérôme war schon irgendwo im Schulgebäude verschwunden.
In der ersten großen Pause entdeckte ich Jérôme dann in der Aula. Er unterhielt sich mit einem Klassenkameraden. Als ermich auf sich zukommen sah, drehte er mir demonstrativ den Rücken zu.
Ich wollte zu ihm rübergehen, mich vor ihn stellen und ihn zwingen, mir zu erklären, was diese Show zu bedeuten hatte. Ja, das wollte ich wirklich. Jede Faser von mir wollte das. JETZT!
Aber meine Beine wohl nicht, denn sie waren wie in Beton gegossen. Komplett unbeweglich.
Ich stand einfach nur da und verspürte plötzlich so einen fiesen kleinen Stich mitten ins Herz. Ein Stich voller Enttäuschung, weil ich gedacht hatte, dass wir uns ein kleines bisschen näher gekommen waren und niemand dem anderen mehr etwas vorspielen musste. Ja, das hatte ich wirklich gedacht … wie man sich doch täuschen konnte.
Kurz vor Ende der zweiten großen Pause sah ich Jérôme dann noch einmal. Er stand vor dem Schwarzen Brett und wieder war er nicht allein. Ein blondes Mädchen war bei ihm und strahlte ihn an. Die beiden wirkten ziemlich vertraut miteinander. Sie hatte die Hand auf seinen Unterarm gelegt und Jérôme schien sich kein bisschen daran zu stören. Ganz im Gegenteil. Er redete so eindringlich auf sie ein und blickte ihr dabei so tief in die Augen, dass mir kotzübel wurde.
War das der Grund für seine plötzlichen Stimmungswechsel? Diese blöde Kuh, die mit ihren Kulleraugen wie ein ausgehungertes Bambi an seinen Lippen hing? Was war das für ein mieses Spiel, das Jérôme da mit mir trieb? Wenn er es sich anders überlegt hatte, dann hätte er mir das doch einfach nur sagen müssen. Ein kurzer Satz. »Hey, Anna, tut mir leid, habe doch kein Interesse.« Dann wären die Fronten geklärt gewesen, auch wenn es wehgetan hätte. Aber das hier, das tat noch viel mehr weh. Es brannte wie Feuer.
Den Rest des Schulvormittags verbrachte ich ausschließlich mit Grübeln.
Die Einzige, die mich hin und wieder davon abhielt, war wieder einmal Tanja. Sie hatte sich offenbar fest vorgenommen, mich zum neuen Liebling der Klasse und zu ihrer allerbesten Freundin zu machen. Was sie nun mit einer Hartnäckigkeit verfolgte, dass ich mich am liebsten in Luft aufgelöst hätte.
Nach Schulschluss war ich so gestresst von Tanjas Bemühungen um mich, dass ich nur noch an Flucht denken konnte. Ich stürmte vor ihr in den Bus und sah Jérôme in der vorletzten Reihe sitzen.
Einen winzigen Augenblick zögerte ich noch, doch dann hörte ich Tanja hinter mir rufen: »Anna, warte! Kennst du meine Cousine Maike-Marie schon?«
Ohne mich umzudrehen, marschierte ich den Gang hinunter und ließ mich auf den freien Platz neben Jérôme sinken.
»Sag nichts«, raunte ich ihm gereizt zu. »Sonst fange ich laut zu schreien an.«
Jérôme betrachtete mich erstaunt von der Seite, schmunzelte ein wenig – und schwieg.
Die ganze Fahrt über verspürte ich den dringenden Wunsch, ihn zu fragen, was eigentlich los sei. Was der ganze Mist sollte. Doch mir fehlten schlicht die richtigen Worte dafür und Jérôme machte es mir mit seiner betont unverbindlichen Art auch nicht gerade leichter. Er wechselte lediglich ein paar belanglose Worte mit mir. Schön freundlich. Eben wie zwei Fremde, die zufällig im Bus nebeneinandersitzen … vielleicht waren wir das ja auch, nur zwei Fremde. Und nur in meiner Fantasie war da mehr zwischen uns gewesen.
In Mahlhausen angekommen, verließen wir zusammen mit einer älteren Frau den Bus. Die Straßen waren wie leer gefegt.
Schweigend gingen wir nebeneinander die Hauptstraße entlang, bis wir die Kreuzung erreicht hatten, an der sich unsere Wege trennten.
»Was ist mit unserer Verabredung?«, murmelte ich und starrte dabei angestrengt auf meine Füße.
Jérôme kam ganz nahe an mich heran, legte die Hand unter mein Kinn und hob es sanft an, sodass ich ihm direkt in die dunklen Augen schauen musste. Seine Berührung ging mir durch und durch.
»Warum fragst du? Wir hatten doch abgemacht, dass ich um vier bei dir vorbeikomme?«
»Ja, aber … ich dachte … weil du …«, stotterte ich.
Langsam zog Jérôme seine Hand zurück. Einen kurzen Moment schien er über etwas nachzudenken. »Eine Sache muss ich dir allerdings noch sagen.«
Ich zuckte leicht zusammen. Alles klar, jetzt würde er mir seine bildschöne Kulleraugenfreundin beichten.
»Also
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