Solange du schläfst
Als ich öffnete und in Jérômes lächelndes Gesicht blickte, schlug mein Herz einen kleinen Tusch.
»Komm doch rein«, bat ich ihn mit dünner Stimme.
Sichtlich beeindruckt schaute er sich im Flur um. »Wow, das ist ja absolut genial geworden«, staunte er und folgte mir in die Küche. »Meine Tante meinte, dass der vorherige Besitzer das Haus ganz schön hat verfallen lassen. Er hat wohl seinen Job verloren und dann ist ihm die Kohle ausgegangen.«
Ich bekam keine Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern, denn Claudia war hinter uns in die Küche getreten.
»Ach, hallo, du bist sicher Jérôme. Ich darf doch du sagen, oder? Anna hat schon so viel von dir erzählt.«
Vielen Dank, Mama!
In Turbogeschwindigkeit schoss mir die Röte ins Gesicht, und ich musste mich beherrschen, meiner Mutter für diese peinliche Äußerung nicht auf der Stelle an die Gurgel zu springen. Dabei hatte sie mir vorhin hoch und heilig versprochen, nicht gleich auf der Bildfläche zu erscheinen! Es gab Momente,in denen verfluchte ich die Tatsache, dass sie zu Hause arbeitete, von ganzem Herzen.
»Ja, klar doch. Frau … ähm … sorry, das ist mir jetzt echt peinlich, aber ich kenne noch nicht mal Ihren Namen.«
Claudia winkte großzügig ab und kicherte albern. »Tja, mein Mann wollte schon lange ein Namensschild angebracht haben. Gaudin, Claudia Gaudin.« Sie streckte ihm lächelnd die Hand entgegen.
Jérôme ergriff sie. »Ich bin Jérôme Sanon. Aber nachdem Anna ja schon so viel von mir erzählt hat«, er warf mir einen kurzen Blick zu und seine Mundwinkel zuckten verdächtig, »wissen Sie das bestimmt. Und natürlich können Sie mich duzen. Ich bin ja erst siebzehn.«
Ich ahnte, was Claudia jetzt gleich von sich geben würde, noch bevor sie überhaupt den Mund aufgemacht hatte.
»Ach, dann bist du bestimmt auch zu dieser Party von Konstantin Krause eingeladen? Vielleicht kannst du Anna ja abholen und ihr geht gemeinsam hin? Das wäre für Anna eine tolle Möglichkeit, die Jugendlichen im Dorf kennenzulernen.«
»Mama«, sagte ich empört. »Was soll das denn? Ich habe doch gesagt, dass ich es mir noch überlege.«
Auch Jérôme schien meine Mutter langsam, aber sicher auf die Nerven zu gehen. Zumindest wirkte sein Gesicht mit einem Mal ziemlich verschlossen.
»Ich denke nicht, dass ich zu der Party gehen werde. Demnächst stehen einige wichtige Klausuren an und dafür muss ich lernen«, erklärte er.
Doch damit gab sich meine Mutter natürlich nicht zufrieden. »Aber ein paar Stunden feiern dürfte doch wohl mal drin sein.«
»Wohl eher nicht«, antwortete Jérôme schroff.
»Aha«, machte Claudia irritiert. »Dann lass ich euch jetzt wohl mal besser allein.«
»Gute Idee«, knurrte ich.
Nachdem Claudia ziemlich hektisch die Küche verlassen hatte, standen Jérôme und ich uns eine Weile schweigend gegenüber.
Irgendetwas war mit einem Mal anders. Es lief nicht gut zwischen uns, das konnte ich deutlich spüren. Jérômes Gesicht hatte wieder diesen abweisenden Zug und zwischen seinen Augenbrauen entdeckte ich eine steile Falte.
»Wollen wir in mein Zimmer hochgehen?«, unterbrach ich schließlich die Stille.
Er brummelte etwas Unverständliches, das ich als Ja deutete, und ich wandte mich zur Treppe. Schweigend trottete er mir hinterher. Obwohl das obere Stockwerk durch das große Panoramafenster besonders beeindruckend war, verlor er nun kein Wort mehr über den tollen Umbau, für den er eben noch so geschwärmt hatte.
In meinem Zimmer ließ ich mich auf das breite Sofa sinken, während Jérôme sich grimmig umguckte, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
»Möchtest du dich nicht setzen?«, fragte ich. »Oder magst du vielleicht was trinken? Ja, genau, daran hätte ich echt mal denken können.« Ich wollte schon aufspringen, um wieder runter in die Küche zu laufen, aber er schüttelte den Kopf.
»Nö, lass mal. Kann sowieso nich lang bleiben.«
Jetzt kapierte ich gar nichts mehr. Wollte er etwa sofort wieder abhauen, wo er doch gerade erst gekommen war?
Ich verschränkte die Hände ineinander, stützte mein Kinn darauf und atmete tief durch. »Was ist denn plötzlich mit dir los?«
»Nichts, ich muss nur gleich wieder weg, weil ich noch lernen will. Und außerdem hab ich meinem Onkel versprochen, dass ich ihm später auf dem Hof helfe.«
»Aha«, machte ich.
»Weißt du, was?«, motzte er aus heiterem Himmel los. »Wenn es dir nicht passt, dann kann ich auch sofort wieder gehen. War sowieso ’ne
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