Solange du schläfst
innerlich bis zehn zu zählen, ehe er aus zusammengebissenen Zähnen hervorpresste: »Arschlöcher. Das sind einfach nur selten dämliche Arschlöcher.«
Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm. Fest und warm fühlte sich die Haut unter meinen Fingern an. »Wie kommtes eigentlich, dass du bei deinem Onkel und deiner Tante wohnst?«, fragte ich. »Wo sind deine Eltern?«
Er schaute mich an, die Lippen immer noch fest aufeinandergepresst und die Stirn gerunzelt.
»Hattest du Stress mit ihnen? Bist du deswegen nach Malhausen gezogen?«
Seine Züge nahmen einen leicht erstaunten Ausdruck an, wurden weicher und schließlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. »Wird das ein Verhör?«, fragte er schmunzelnd.
»Ich will dich einfach nur besser kennenlernen«, sagte ich und guckte verschämt zu Boden.
»Na gut«, verkündete Jérôme, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, »schieß los, ich bin für jede Frage bereit. Und damit du mir auch glaubst, verrate ich dir gleich mein allerdunkelstes Geheimnis: Ich bin eine langweilige, verstaubte Leseratte. Neben meinem Bett stapeln sich Bücher über Bücher, und ich weiß, das ist alles andere als sexy. Außerdem stehe ich auf Jan Delay. Auch wenn seine Stimme so klingt, als hätte er immer eine Wäscheklammer auf der Nase. Also, wenn du es dir an dieser Stelle noch einmal überlegen möchtest, noch kannst du die Flucht ergreifen.«
»Spinner!« Ich lachte auf und ließ mich rücklings neben ihn ins Gras sinken. Und in diesem Moment spürte ich es. Da war etwas zwischen uns – etwas Außergewöhnliches, das ich noch mit keinem anderen Jungen erlebt hatte. Und ich war mir sicher, dass auch Jérôme es spürte.
Er beugte sich zu mir herüber und fuhr mit dem Zeigefinger langsam die Konturen meines Gesichts nach.
»Du bist unglaublich, Anna«, flüsterte er. »Jedes Mal wenn ich dich angucke, dann ist es, als ob eine Bombe in meinem Herzen explodieren würde.«
Nun war es endgültig um mich geschehen. In einem plötzlichen Impuls legte ich ihm die Hände um den Hals und zog sein Gesicht zu mir heran. Er lächelte, kam mir mit seinem Mund so nah, dass ich seinen warmen Atem auf der Haut spürte. Und dann endlich … legten sich seine Lippen auf meine und seine Zungenspitze suchte sanft ihren Weg in meinen Mund. So zärtlich, dass sich mir die feinen Härchen an Arm und Nacken aufstellten.
Ich streichelte seine Wange, fasste in seine weichen Locken, während seine Hände über meinen Rücken glitten und der Kuss immer mehr an Intensität gewann.
»Wow«, brachte Jérôme hervor, als wir uns nach einer kleinen Ewigkeit wieder voneinander lösten.
Dem gab es nichts hinzuzufügen, fand ich. Außer vielleicht einer Zugabe.
Es dämmerte schon, als ich nach Hause kam. Gedankenverloren steckte ich den Schlüssel ins Türschloss, als mich ein Räuspern hinter mir erschrocken zusammenfahren ließ. Ich fuhr so ruckartig herum, dass mein Gegenüber ebenfalls ein wenig zusammenzuckte. Ich wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Meine Hand krallte sich um den Türknauf, mein Herz raste.
»Oh, sorry«, murmelte der Junge. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Hast du aber!«, gab ich zurück.
»Tja, ich hab dir auch was voraus. Hab dich schon ein paarmal im Dorf gesehen. Du mich aber wohl nicht, was? Wie auch immer, ich bin Konstantin Krause«, stellte er sich breit grinsend vor. »Ich war heute Mittag schon einmal hier und habe eine Einladung für dich abgegeben.«
Ich musterte ihn. Blonde kurze Kringellocken und ein glattes Unschuldsgesicht mit blauen Augen.
Du bist also Konstantin Krause.
»Und warum stehst du nun schon wieder vor unserer Tür?«, fragte ich schroff.
»Ähm … reiner Zufall. Hab dich eben gesehen, zusammen mit diesem Jérôme, als du mit dem Rad den Weg lang bist, und mir gedacht, ich sag noch mal schnell persönlich Hallo. Na ja, und warne dich vor diesem Typen.«
»Aha«, sagte ich abweisend. Doch dann kam mir ein Gedanke. »Okay, ich hätte mal eine Frage. Da erst gestern zwei deiner Freunde meinten, mir erklären zu müssen, mit wem ich mich abgeben sollte und mit wem nicht, und du deswegen nun auch noch bei mir zu Hause aufkreuzt, möchte ich eine Sache gern wissen: Was soll das ganze Theater? Seid ihr noch ganz dicht? Ihr kennt mich doch nicht einmal.«
Das Grinsen auf Konstantins Gesicht war schlagartig wie weggewischt. Er kam ein wenig näher an mich heran und stieß wütend hervor: »Spiel
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