Solange du schläfst
beschämend.«
Jérôme wusste nicht, wie er seine Mutter trösten konnte. Gestern hatte sie ihm noch voll überschäumender Euphorievon einem kleinen Jungen erzählt, den sie unter extrem schlechten Bedingungen operiert und damit sein Leben gerettet hatte. Und heute war sie wieder total am Boden zerstört.
»Ma, niemand zwingt dich, in Kenia zu bleiben.«
»Entschuldige bitte. Ich wollte dir nicht am Telefon etwas vorheulen.« Sie klang wieder gefasster.
»Ist schon okay«, sagte Jérôme. Er hätte ihr gern von Anna erzählt, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Irgendwie wollte er die Sache mit Anna noch für sich behalten.
»Was machen Ella und Udo?«
»Was sie immer tun, sie streiten. Ella will unbedingt den Hof verkaufen und Udo sträubt sich mit Händen und Füßen dagegen. Ansonsten habe ich das komische Gefühl, dass Udo gerade im Begriff ist, eine Riesendummheit zu begehen.«
»Wie kommst du darauf?«
Jérôme überlegte kurz. Eigentlich wollte er seine Mutter damit nicht belasten. Zumal er sich noch nicht einmal sicher war, ob an seinem Verdacht überhaupt etwas dran war.
»Ich habe vor ein paar Tagen ein ziemlich komisches Telefonat mitbekommen«, begann er zögerlich. »Udo hat mit irgendjemand etwas wegen einer Übergabe abgesprochen.« Mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme fügte er hinzu: »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es dabei nicht um landwirtschaftliche Erzeugnisse ging.«
»Hm …«, machte Jérômes Mutter. »Udo und kriminelle Geschäfte? Das kann ich mir ehrlich gesagt überhaupt nicht vorstellen.«
»Er verschwindet in letzter Zeit regelmäßig spätabends. Ella flippt total aus deswegen, aber Udo weigert sich, ihr zu sagen, wo er sich herumtreibt. Und gestern habe ich einen Streit zwischen den beiden mitbekommen, in dem Udo ankündigte,dass er einen neuen Traktor kaufen würde. Das Geld dafür hat er angeblich schon. Vielleicht ist er in Hehlereigeschäfte verwickelt oder so?«
Einen Moment herrschte Ruhe am anderen Ende der Leitung. Jérôme dachte schon, die Verbindung sei abgebrochen, als seine Mutter plötzlich sagte: »Tja, wenn es um den Hof geht, ist ihm wahrscheinlich doch so ziemlich alles zuzutrauen. Aber wie sollte er in so was hinein…«
Es folgte ein kurzes Rauschen und dann schien die Verbindung wirklich abgebrochen zu sein. Jérôme rief noch zwei-, dreimal ihren Namen, sah aber schließlich ein, dass es keinen Zweck hatte. Er legte das Handy vor sich auf den Schreibtisch und betrachtete es eine Weile nachdenklich.
Aus dem Nebenzimmer drangen Ellas und Udos aufgebrachte Stimmen zu ihm herüber.
Nicht schon wieder, dachte Jérôme. Nicht heute.
Er presste sich die Hände auf die Ohren. Doch das Geschrei der beiden war immer noch zu hören. Plötzlich hatte er das Gefühl, es nicht eine Sekunde länger im Haus auszuhalten. Die Wände erdrückten ihn förmlich und das wütende Geschrei zerrte an seinen Nerven.
»Ich muss hier raus«, sagte er zu sich selbst.
Erneut griff er nach seinem Handy, wühlte den kleinen Zettel aus der Hosentasche, auf den Anna ihm vorhin ihre Handynummer gekritzelt hatte, und wählte sie kurz entschlossen. Sein Herz dröhnte wie verrückt, während er angestrengt dem Tuten lauschte und gleichzeitig versuchte, Ellas Gekeife und Udos Gepolter auszublenden.
Dann endlich war Anna am Telefon. »Ja?«, murmelte sie.
Jérôme zögerte, wollte einem ersten Reflex folgend einfach wieder auflegen, aber dann kam ihm das ziemlich lächerlichvor und er sagte: »Ich bin’s, Jérôme. Kannst du dich noch mal rausschleichen?«
»Was meinst du damit?« Ihre Stimme klang benommen. Anscheinend hatte sie schon geschlafen.
»Hab ich dich geweckt?« Augenblicklich überkam ihn ein schlechtes Gewissen.
»Ähm … nicht wirklich«, druckste sie etwas verlegen herum. »Bin wohl über meinem Buch eingenickt. Übrigens das, von dem du mir so vorgeschwärmt hast …«
»Oje, ich sag’s doch, ich bin voll der Langweiler.«
Sie kicherte leise und Jérôme fragte: »Der Platz heute im Wald, der hat dir gefallen, oder?«
»Ja, total«, schwärmte Anna.
»Ich kenne da eine Lichtung. Direkt über Mahlhausen. Der Ausblick ist genial.«
»Das hört sich gut an.«
»Du musst nur Ja sagen.«
»Ja«, flüsterte Anna in den Hörer.
8.
Hand in Hand liefen wir nebeneinanderher. Vor uns der tiefschwarze Wald mit seinen gewaltigen, düsteren Umrissen.
Seitdem ich mich aus dem Haus geschlichen und Jérôme an der kleinen Landstraße stehen gesehen
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