Solaris
Nachkommenschaft wurden Hypothesen über die nichtpsychische Natur des solarischen Ozeans laut. Jedwede Suche nach Bekundungen bewußten Willens, nach Zweckbestimmtheit der Prozesse, nach Handlungen, die durch innere Bedürfnisse des Ozeans motiviert wären, all das wurde nahezu allgemein als eine Art von Verirrung einer
ganzen Forschergeneration gewertet. Der publizistische Eifer, ihre Behauptungen zu widerlegen, bereitete den Boden für die nüchternen, analytisch ausgerichteten, auf emsiges Faktensammeln konzentrierten Untersuchungen der Gruppe Holden-Eonides-Stoliwa; das war die Zeit der gewaltsam schwellenden und auseinanderwuchernden Archive und Mikrofilmkarteien, der Expeditionen, die reich mit allen erdenklichen Apparaten ausgestattet waren, mit Registrierautomaten, Feinanzeigern, Sonden und allem, was die Erde nur hergab. In manchen Jahren beteiligten sich damals an den Forschungen über tausend Leute zugleich, aber während das Tempo der Zunahme des unentwegt gesammelten Materials sich immer noch steigerte, war der Geist, der die Wissenschaftler belebte, bereits am Veröden, und es begann die schwer eindeutig abgrenzbare Endzeit dieser trotz allem noch optimistischen Phase der solarischen Forschungen.
Sie war vor allem geprägt durch die großen, in der theoretischen Vorstellungskraft oder auch in der Negation mutigen Persönlichkeiten solcher Leute, wie Giese, wie Strobla, oder wie Sevada, dieser letzte der großen Solaristen, der in der Gegend um den Südpol des Planeten unter rätselhaften Umständen umgekommen ist, indem er etwas getan hat, was nicht einmal einem Anfänger unterläuft. Er flog seinen knapp über dem Ozean dahingleitenden Apparat vor den Augen hunderter Beobachter in den Schlund eines Schnellers hinein, der ihm deutlich auswich. Man sprach von irgendeiner plötzlichen Schwäche, einer Ohnmacht, oder auch von einem Defekt an den Steuern; ich denke, in Wirklichkeit war das der erste Selbstmord, der erste plötzliche, offene Ausbruch der Verzweiflung.
Jedoch nicht der letzte. Aber Gravinskys Band enthält keine solchen Angaben, ich selbst fügte dazu Daten, Fakten und Einzelheiten aneinander, während ich seine vergilbten, mit dichtem kleinem Druck übersäten Seiten betrachtete.
So pathetische Anschläge auf das eigene Leben kamen im übrigen später nicht mehr vor, es fehlte auch an jenen großen Persönlichkeiten. Die Rekrutierung der Forscher, die sich einem bestimmten Bereich der Planetologie widmen, ist eigentlich ein von niemandem erforschtes Phänomen. Leute von großer Begabung und großer Charakterstärke kommen mit mehr oder weniger gleichbleibender Häufigkeit zur Welt, nur ihre Wahl treffen sie unterschiedlich. Ihr Vorhandensein oder Fehlen in einem bestimmten Forschungsbereich erklärt sich wohl durch die Aussichten, die er eröffnet. Die Klassiker der Solaristik werden verschiedentlich beurteilt, aber Größe und oftmals Genie kann ihnen niemand absprechen. Die besten Mathematiker, Physiker, Spitzenkräfte auf dem Gebiet der Biophysik, der Informationstheorie, der Elektrobiologie, hat ganze Jahrzehnte lang der schweigende solarische Gigant an sich gezogen. Mit einem Mal wurde das Heer der Forscher von einem Jahr aufs andere gleichsam der Führer beraubt. Übrig blieb die farblose, namenlose Schar von geduldigen Sammlern, Kompilatoren, Schöpfern so mancher Experimente von originellem Zuschnitt, aber es fehlte bereits an Massenexpeditionen nach Plänen in globaler Größenordnung, und es fehlte an kühnen, ganzheitlichen Hypothesen.
Die Solaristik fing gleichsam zu zerbröckeln an, und gleichsam die Begleitstimme, die Parallele zu ihrem absinkenden Flug, bildeten die massenhaft gezeugten, kaum durch zweitrangige Einzelheiten voneinander unterschiedenen Hypothesen über die Degeneration, Abartigkeit oder Rückbildung der Solarismeere. Dann und wann tauchte eine kühnere, interessantere Konzeption auf, aber in allen wurde der Ozean gleichsam abgeurteilt, für das Endprodukt einer Entwicklung erklärt, das einst, vor Jahrtausenden, die Periode höchster Organisiertheit durchlaufen habe und jetzt, nur mehr physisch geeint, in ein Gewimmel nutzloser, sinnloser Agoniegebilde zerfalle. Also bereits monumentale Agonie, die sich durch Jahrhunderte hinzieht: so sah man die Solaris. Man wollte in den Längichten und Mimoiden Anzeichen von Krebswucherung wahrnehmen, deutete die
Prozesse, die den flüssigen Fleischberg bewegten, als Äußerungen des Chaos und der Anarchie, bis diese
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