Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
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Prolog
Spanien, Juli 1970
Gestern hatte sie die junge Frau bemerkt. Am Swimmingpool. Der kleine Junge, der gerade erst laufen lernte, war offenbar trotzig und machte seiner Mutter das Leben schwer. Egal. Sie hatte sich bereits entschieden. Er oder keiner.
Seine Mutter lächelte gequält. «Er hat Hunger. Dann ist er immer schlecht gelaunt. Genau wie sein Bruder.»
«Wir sind alle mal ein bisschen gereizt, wenn uns der Magen knurrt.» Es klang so, als wollte sie sein Gequengel rechtfertigen, Verständnis für den Kleinen zeigen. Seine Mutter würde sich für den Rest ihres Lebens an diesen Wortwechsel erinnern. Und sich immer fragen: warum?
Das war am Mittag gewesen. Auf der anderen Seite der golden schimmernden Bucht hatten sich die weißen Häuser mit den roten Dächern, die rings um die Kirche gedrängt standen, in tiefstem Türkis gespiegelt.
Sie warf einen kurzen Blick zurück. Jetzt, nur zwei Stunden nach Sonnenuntergang, flutete Mondlicht über die spiegelglatte Wasserfläche. Gleich würden sich die dunklen Hügelketten davorschieben und das Mittelmeer endgültig ihrem Blick entziehen. Die ruhige Erwartung von gestern war einer an Panik grenzenden Angst gewichen. Überall klebriges, dunkles Blut – an ihren Händen, am Lenkrad. Ein Moment der Unachtsamkeit, die messerscharfe Kante eines kürzlich geschnittenen Fingernagels. Eine schläfrige Hand, die nach dem Nacken tastete und ihr dabei die Wange zerkratzte.
Von der dunklen Terrasse aus hatte sie seine Eltern im Licht des Restaurants auf der anderen Seite des Pools beobachtet. Wein und Gelächter. Die beruhigenden Worte, die sie dem Jungen zuflüsterte, erübrigten sich. Er schlief schon wieder. Sein blutverschmierter Panda, der heruntergefallen war, blieb im Schlafzimmer liegen.
Die Straße wand sich in Haarnadelkurven immer tiefer in den dunklen Pinienwald, wo sich die Bäume mit knorrigen Wurzeln haltsuchend in die Spalten von uralten Felsen klammerten, die breiten Kronen aufgespannt wie Schirme gegen das störende Mondlicht.
Nachdem die Lichter von Llançà im Rückspiegel verloschen waren, kräuselte sich die Straße in Richtung Norden um eine bergige Landzunge nach der anderen. Nur hier und da blitzte für einen Moment das Meer auf. Dann erschien in der Tiefe der hell erleuchtete Bahnhof von Portbou mit seinen riesigen Hebekränen, die mehrere zusammenlaufende Schienenstränge überspannten. Ein Spurweitenwechsel, dann die unsichtbare Linie, hinter der alles anders war: die Sprache. Die Kultur. Die Zukunft. Die Vergangenheit.
Die Grenze zu Frankreich markierte das Ende eines langen Anstiegs, der aus der Stadt herausführte. Dies war der Moment, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte. Auf der spanischen Seite war weit und breit niemand zu sehen. Im Zollhäuschen brannte zwar Licht, doch offenbar war es nicht besetzt. Am französischen douane war die Schranke unten. Als sie heranfuhr, sah ein schläfriger Grenzbeamter hinter dem Schiebefenster von seinem Schreibtisch auf. Mit blutigen Fingern kramte sie nach ihrem Pass. Was sollte sie ihm erzählen? Zeigte sie ihm ihren Ausweis, würde er sie mit Sicherheit wiedererkennen, sobald die Fahndung herausgegeben war. Doch er sah nicht einmal hin, sondern öffnete die Schranke und winkte sie durch. Nie würde er das Blut an ihrem Ausweis sehen, sich ihr Gesicht einprägen oder den kleinen Jungen bemerken, der auf dem Rücksitz in einem Tragebettchen schlief.
Sie war durch. Sie hatte es geschafft. Jetzt lag nur noch die Zukunft vor ihr.
Anderthalb Stunden später passierte sie im letzten Dunkel der Nacht den Eingang des Militärtrainingsforts auf dem Hügel, eine schmale Durchfahrt unter einem Bogen aus dicht verschlungenen, blütenübersäten Ranken, und parkte den Wagen schließlich neben einem kleinen Bruchsteinhaus am Rand der Klippen. Sie war zu Hause. Mit einem Baby.
Und ahnte nicht, dass sie in den nächsten sechzehn Jahren einen Killer großziehen würde.
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Teil eins
Kapitel eins
Paris, Februar 1992
Yves beobachtete in der kalten Morgenluft, wie auf dem Boulevard unter ihm der Verkehr zum Stillstand kam. Das Ende des Staus war nicht auszumachen, er reichte bis zur nächsten Ampel und noch weiter. Er spürte die Frustration der Fahrer, die mit ihren Autos in der Falle saßen, förmlich zu sich aufsteigen, zusammen mit den schädlichen Dämpfen der Auspuffgase. Die Stadt war nichts für ihn. Zeit für eine Luftveränderung.
Auf den
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