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Solaris

Solaris

Titel: Solaris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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(entwickelt von der Schule Meuniers und Prorochs), zu enträtseln sei eigentlich nur ein einziges Geheimnis, und schlössen wir es erst mit dem passend gewählten Interpretationsschlüssel auf, so werde sieh auf einen Schlag alles aufklären…
    Leute, die vielfach nichts mit der Wissenschaft zu schaffen hatten, wandten Zeit und Energie an die Suche nach diesem Schlüssel, nach diesem solarischen Stein der Weisen, und die Zahl der Spekuliersüchtigen, die außerhalb wissenschaftlicher Kreise erwuchsen, aller dieser Besessenen, die ihre einstigen Vorgänger, etwa die Propheten des »Perpetuum mobile« oder der »Quadratur des Zirkels«, an Fanatismus übertrafen, nahm im vierten Jahrzehnt solaristischer Geschichte die Ausmaße einer Epidemie an, was manche Psychologen geradezu beunruhigte. Diese Leidenschaft erlosch jedoch nach einigen Jahren, und zur Zeit meiner Vorbereitungen auf die Solarisreise war sie längst aus Zeitungsspalten und Gesprächen verschwunden, ähnlich wie im übrigen die ganze OzeanFrage.
    Als ich Gravinskys Band zurückstellte, entdeckte ich daneben, da die Bücher alphabetisch gereiht waren, die winzige, zwischen den dicken Buchrücken fast verschwindende Broschüre Grattenstroms, eine der wunderlichsten Blüten solarischen Schrifttums. Das ist eine Arbeit, die sich - im Kampf um die Einsicht in Außermenschliches
    - gegen die Menschheit selbst wendet, gegen den Menschen, eine eigentümliche, auf uns als Gattung gemünzte Schmähschrift, wütend in ihrer kahlen Mathematik, die Arbeit eines Autodidakten, der nach etlichen Veröffentlichungen ungewöhnlicher Beiträge zu gewissen hochspeziellen und eher entlegenen Zweigen der Quantenphysik schließlich in diesem seinem allerungewöhnlichsten und wichtigsten, wenn auch kaum ein Dutzend Seiten starken Werk aufzuzeigen sucht, daß sogar die scheinbar abstraktesten, extrem theoretischen, mathematisierten Leistungen der Wissenschaft in Wirklichkeit kaum ein, zwei Schritte über die vorgeschichtliche, plump sinnenhafte, vermenschlichende UmweltErkenntnis hinausgehen. In den Formeln der Relativitätstheorie und des Kraftfeldertheorems, in der Parastatik, in Annahmen eines einzigen kosmischen Feldes spürt er die Prägung durch den Körper auf, all das, was durch die Existenz unserer Sinne, durch den Aufbau unseres Organismus, durch die Beschränkungen und Gebrechen der tierischen Leiblichkeit des Menschen bestimmt und bedingt ist; so gelangt Grattenstrom zu der abschließenden Folgerung, ein »Kontakt« des Menschen zu irgendeiner ahumanoiden, nicht menschenartigen Zivilisation könne nicht und werde nicht in Betracht kommen. Diese Sehmähschrift auf die ganze Gattung erwähnt mit keinem Wort den lebenden Ozean, aber seine Gegenwart in Gestalt verächtlich triumphierenden Schweigens ist unter fast jedem Satz herauszuspüren. So hatte ich das zumindest bei der ersten Begegnung mit Grattenstroms Broschüre empfunden. Im übrigen ist diese Arbeit eher ein Kuriosum, als ein Solarianum in normalem Sinne; hier in der Klassikersammlung schien sie auf, weil Gibarian selbst sie hineingestellt hatte; von ihm hatte ich sie im übrigen zu lesen bekommen.
    Mit merkwürdigem, der Hochachtung ähnlichem Gefühl schob ich den dünnen, nicht einmal eingebundenen Abzug vorsichtig zwischen die Bücher auf dem Brett. Ich berührte mit den Fingerspitzen den grünlichbraunen »Solaris-Almanach«. Bei all dem Chaos, bei aller Hilflosigkeit, die uns eingekesselt hielt, ließ sich nicht bestreiten, daß wir durch die Erlebnisse zweier Wochen Gewißheit in einigen Grundfragen erlangt hatten, um
    derentwillen jahrelang ein Meer von Tinte vergeudet worden war; sie hatten nämlich die Themen nichtssagender, weil unentscheidbarer Auseinandersetzungen gebildet.
    Jemand, der Gefallen an Paradoxa fand und hartnäckig genug war, konnte wohl weiterhin anzweifeln, daß der Ozean ein Lebewesen sei. Jedoch die Existenz seiner Psyche ließ sich unmöglich abstreiten, gleichviel, was auch immer unter jenem Wort zu verstehen sein sollte. Es war offenkundig geworden, daß er unsere Anwesenheit über seinem Bereich nur allzu gut wahrnahm… Diese eine Feststellung tilgte einen ganzen ausgebauten Flügel der Solaristik aus, der darauf bestanden hatte, der Ozean wäre »eine Welt in sich selbst«, »in sieh ruhendes Sein«, er hätte durch nachträglichen Schwund die einst vorhanden gewesenen Sinnesorgane eingebüßt, er wüßte nichts von der Existenz irgendwelcher Phänomene oder Objekte der

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