Tod in Garmisch
EINS
Als der erste
Sonnenstrahl durch die karierten Vorhänge des kleinen Fensters drang, war
Magdalena schon wach. Sie lauschte auf die Stimmen der Vögel, das einzige
Geräusch an diesem Morgen.
Nur Großvaters alter
Lada hatte die Stille unterbrochen, als er vor Sonnenaufgang zur Jagd gefahren
war. Nun waren bloß noch die Vögel zu hören. Die Ruhe hier oben war immer
wieder aufs Neue ein Genuss für sie, auch wenn sie wusste, dass Hias bald den
Traktor anlassen und eine Wolke aus rußigen Abgasen durch das offen stehende
Fenster blasen würde.
Magdalena stand mit
einem Lächeln auf. Sie zog die Vorhänge zur Seite. Tatsächlich sah sie Hias
bereits über den Hof zur Scheune stapfen. Die Gipfel des Wettersteingebirges
strahlten golden in der Morgensonne. Auch nach Jahrzehnten war ihr der Anblick
der mächtigen Gipfel nicht gleichgültig.
Die Amerikaner
mochten behaupten, in God’s own country zu leben, dachte sie. Sie waren
zumindest nicht die Einzigen.
Sie goss die
Emailleschüssel halb voll, warf sich wohlig das kalte Wasser ins Gesicht und
rubbelte es anschließend trocken. Das Aufstehen fiel ihr hier auf dem Hof viel
leichter als in ihrer Wohnung im Hotel. Aber sie konnte es nur selten
einrichten, bei ihrer Mutter auf dem Meixner-Hof zu übernachten, und wenn sie
ganz ehrlich war, wusste sie ja auch, dass der Aufenthalt hier nicht nur aus
angenehmem Aufstehen bestand.
Sondern zum Beispiel
auch aus dem Frühstück mit ihrer Mutter.
Magdalena liebte ihre
Familie; ihre Mutter Reserl und ihren Großvater Melchior, den alle nur Maiche
nannten; ihren jüngeren Bruder Wastl, obwohl sie wusste, dass er sein Studium
in Frankfurt nur als Vorwand für das Leben eines Taugenichtses nutzte –
ständiger Quell des Streites mit ihrer Mutter, die an ihrem Jüngsten einfach
nicht zweifeln wollte. Immer noch sah sie in ihm das Ebenbild ihres geliebten
Ehemannes, den ihr ein hinterhältiger Krebs binnen weniger Wochen geraubt
hatte. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters vor acht Jahren waren Magdalenas
Gefühle für ihre Mutter noch intensiver geworden.
Aber leider machte
das die Anstrengung nicht wett, die es sie kostete, vor ihrer zweiten Tasse
Kaffee eine konzentrierte Unterhaltung zu führen. Und leider hatte ihre Mutter
nie die Sensibilität aufgebracht, sie mit ihren Vorträgen zu verschonen, nur
weil sie ein Morgenmuffel war.
Nach dem Zähneputzen
öffnete Magdalena die Tür und stieg die steile Treppe zur Stube hinunter, in
der Reserl bereits werkelte. Großvater und Knecht Hias hatten ihr Frühstück
natürlich längst beendet.
»Endlich, du
Langschläfer«, sagte ihre Mutter, ohne sich zu Magdalena umzudrehen. Sie war
dabei, das gespülte Geschirr in den alten Schrank aus hellem Eichenholz zu
räumen.
Ihre Stimme hatte
diesen müden Klang, den sie häufig hatte seit Vaters Tod. Meist lag ein Vorwurf
darin, als wäre Magdalena für ihre Situation verantwortlich. Magdalena hatte lange gebraucht, sich diesen Klang nicht mehr zu Herzen zu nehmen. Aber gerade
morgens fiel es ihr schwer. Sie brummte irgendwas zur Begrüßung.
»I wollt gestern
Abend ned drüber redn, weil der Maiche dabei war«, sagte Reserl, während sie
Kaffee in einen Becher schenkte und ihn Magdalena hinstellte.
Magdalena setzte
sich auf die Bank vor dem Fenster und griff nach dem Becher. Seine Wärme war
angenehm und der Duft vielversprechend.
»Ärger?«, fragte sie
und nahm einen Schluck.
»Maiche hat an
Schedlbauer Berni im Wald gtroffn.«
»Wohin?«, fragte
Magdalena und verfluchte sich sofort für diese dumme Bemerkung.
Reserl fuhr zu ihr
herum. »Des is überhaupt ned witzig, Lenerl«, sagte sie scharf. »I woaß ja a
ned, was er da gsucht hod. Woaßt, was der Maiche getan hod? Mit der Flintn hod
er eam aus seim Wald gjagt. Mit der Flintn! Hoffentlich fängt jetzt ned alles
von vorn an!«
Magdalena stöhnte
auf. Das war starker Tobak für diese Uhrzeit. Die Fehde der Meixners und der
Schedlbauers gehörte fast schon zur Folklore. Alle Meixners waren froh, dass
die Geschichte irgendwann eingeschlafen war – oder besser: fast alle, denn
Großvater Maiche hatte sich nie wirklich abgefunden mit dem, was er für eine
Niederlage hielt. Berni war einer der Söhne von Sippenoberhaupt Rosemarie
Schedlbauer, die jeder nur als Mirl kannte. Und nun waren ausgerechnet die
beiden härtesten Kerle der beiden Familien aneinandergeraten.
Tatsächlich lagen
die Ursprünge dieser Fehde so weit zurück, dass die verschiedensten Versionen
davon
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