Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
noch?“
Claire schaute Ross an. Sie hatte solche Angst, dass sie nicht mehr denken konnte.
„Könnte sein, dass der galante Freund herbeigeeilt ist und den Entführer seiner Liebsten erschossen hat“, überlegte Teresa. „Aber das ist ein wenig zu vorhersehbar. Ich mag es, wenn die Leute grübeln müssen. Ich denke, Claire wird die Schützin sein. Es liegt eine gewisse poetische Gerechtigkeit darin, dass sie ihren einst so vertrauten Pfegevater …“
Es gab einen fürchterlichen Knall und dann einen Blitz. Teresas Augen weiteten sich ungläubig, dann fel sie nach vorne.
„Ich habe eine bessere Idee“, sagte George Bellamy und senkte seine Flinte. „Wie wäre es mit nichts von dem?“
Ross drehte sich um. „Granddad? Heilige Scheiße!“
George sah blass aus, aber entschlossen. „Du siehst besser nach, ob da noch was zu machen ist, Sohn.“
Ross überprüfte Vance’ Puls. „Tot“, murmelte er und ging zu Teresa. „Sie ist allerdings immer noch bei uns.“ Und dann tat er seine Pficht und hielt sie am Leben, bis der Krankenwagen kam.
„Ich wollte Ihnen nicht Ihre Party verderben, George“, füsterte Claire. Die Thermodecke fest um sich gewickelt lehnte sie sich an Ross, nicht gewillt, sich auch nur einen Moment von ihm zu lösen. Um sie herum standen mehrere Krankenwagen, und die Polizei hatte das Kommando übernommen.
„Guter Himmel, Sie haben gar nichts ruiniert!“ George schüttelte energisch den Kopf. „Ich bin einfach nur dankbar, dass es Ihnen gut geht.“
„Dafür sind wir alle dankbar“, pfichtete Charles ihm bei.
Claire zitterte wieder, als sie daran dachte, was sie in diese unschuldige, glückliche Familie gebracht hatte. Doch keiner hatte gezögert, ihr zu helfen, ihr, einer Fremden mit falscher Identität. Die unglaubliche Güte ihrer Handlungen erschütterte sie bis ins Mark.
Ross hielt sie an den Schultern, und seine Berührung war das Einzige, was sie beruhigte. „Jetzt ist alles gut“, versicherte er ihr. „Du ziehst dir jetzt erst einmal etwas Trockenes an, und dann wird die Polizei deine Aussage aufnehmen.“
Einer der Ermittlungsbeamten besprach sich mit einem Kollegen und zeigte dabei auf George Bellamy.
„Charles“, wandte der sich an seinen Bruder, „es kann sein, dass ich einen Anwalt brauche.“
„Das ist lustig. Ich wollte dir gerade meine Dienste anbieten.“
„In diesem Fall sind wir wohl ein perfektes Team.“
Charles bot seinem Bruder den Arm als Stütze. Die beiden alten Männer gingen gemeinsam fort, umgeben von dem smaragdfarbenen Licht, das der Willow Lake refektierte.
Ross zog Claire enger an sich und hielt sie fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. „Willkommen zurück, Clarissa Tancredi!“, füsterte er und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Willkommen zurück.“
EPILOG
Avalon, New York
Indian Summer
R oss starrte auf den Höhenmesser des Flugzeugs und sah zu, wie er auf zehntausend Fuß kletterte. Duke Elder hatte ihn gemeinsam mit seinen drei Onkeln mitgenommen; nicht zum Fallschirmspringen, sondern aus einem ernsteren Anlass. Nur dass sie nicht wirklich ernst waren. Trevor und Louis ließen eine Flasche Rémy Martin herumgehen und tauschten kichernd Kindheitserinnerungen aus. Gerard machte Fotos. Die Hügel waren in den fammenden Farben des Herbstes entbrannt – Orange und Rot und Pink.
Über die Kopfhörer hörte Ross, wie sie über Granddad sprachen. Man stimmte allgemein überein, dass George Bellamy kein perfektes Leben geführt hatte, aber ein gutes, und das war alles, was man von einem Mann erwartete. Und wenn es so etwas wie einen „guten“ Tod gab, dann hatte Granddad ihn gehabt. In den letzten Tagen hatte Claire dafür gesorgt, dass er so gut wie keine Schmerzen mehr empfand, und er hatte mit allen, die er liebte, Zeit verbracht. Hatte mit ihnen gesprochen oder ein Brettspiel gespielt und manchmal auch einfach nur schweigend zusammengesessen.
Sein Großvater war der Beweis für etwas, wovon Claire einmal gesprochen hatte: Die Sterbenden lehren einen, zu leben. In diesem einen Sommer hatte Granddad Ross gezeigt, wie wichtig es war, sich einem ganz neuen Leben zu öffnen. Und er hatte, wie Ross zugeben musste, mit seiner letzten Mission Erfolg gehabt: Ross und Claire zusammenzubringen. Sie war nach Avalon gekommen, um sich zu verlieren; Ross war nach Avalon gekommen, um sich zu fnden. Und dann hatten sie einander gefunden. Genau, wie sein Großvater es erhofft hatte.
Sie behielt den Namen Claire
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