Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
einer Feldflasche und weinte leise vor sich hin.
„Hey, tut mir leid, wie ich Sie da draußen angeschrien habe“, sagte er.
Sie schaute ihn aus roten Augen an, in denen Tränen schwammen. „Sie haben mir heute den Arsch gerettet.“
„Das ist ja auch ein recht hübscher Arsch.“
„Vorsichtig, wie Sie mit mir reden, Chief! Ihr Mundwerk könnte Sie noch ganz schön in Schwierigkeiten bringen.“ Sie grinste unter ihren Tränen. „Ich bin Ihnen was schuldig.“
„Ich tue nur meinen Job, Ma’am.“
„Klingt so, als dürften Sie nach Hause.“
„Jupp.“
Sie wühlte in ihrer Tasche, zog eine Visitenkarte heraus und kritzelte eine E-Mail-Adresse darauf. „Vielleicht bleiben wir in Verbindung.“
„Vielleicht.“ So funktionierte es nicht, aber sie war noch zu neu, um das zu wissen.
Er drehte die Karte um und betrachtete die gedruckte Seite. „Tyrone Kennedy. Büro des Staatsanwalts von New Jersey“, las er. „Heißt das, ich stecke in Schwierigkeiten?“
„Nein. Aber sollten Sie jemals in New Jersey in Schwierigkeiten stecken, rufen Sie meinen Dad an. Er hat gute Verbindungen.“
„Und doch sind Sie hier.“ Er deutete auf das staubige Gelände. Vielleicht war sie, wie er gewesen war – ziellos, getrieben von dem Wunsch, etwas Bedeutungsvolles zu tun.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich mein ja nur, Sir. Wann immer und wo immer Sie was von mir brauchen, Sie kriegen es.“ Sie schraubte die Feldflasche zu, erhob sich und ging in Richtung Messe. Eine ganz andere Person als die Neue, die er noch vor wenigen Stunden kennengelernt hatte.
Überrascht bemerkte er, dass seine Hände zitterten, als er die Visitenkarte in die Hemdtasche steckte. Außer ein paar Kratzern und blauen Flecken war er nicht verletzt, doch ihm tat alles weh. Seine Nerven lagen blank. Nach dreiundzwanzig Monaten, in denen er sich gegen alle Arten von Schmerzen taub gestellt hatte, fing er jetzt an, wieder alles zu spüren.
1. KAPITEL
Ulster County, New York
G eorge Bellamy kam Claire für einen sterbenden Mann ziemlich fröhlich vor. Im Radio lief gerade die dümmste Sendung, die sie je gehört hatte, eine Plauderstunde namens Hootenanny , und George fand es zum Schreien. Er hatte ein markantes, ansteckendes Lachen, das tief in seinem Inneren zu entstehen schien und sich in alle Richtungen ausdehnte. Es fing als sanfte Vibration an und steigerte sich dann zu einem Ausbruch purer Heiterkeit. Und nicht nur bei der Radiosendung. George hatte vor Kurzem die Nachricht erhalten, dass sein Enkel aus dem Kriegseinsatz in Afghanistan zurückkehren würde, und das steigerte seine Fröhlichkeit noch mehr. Jeden Tag konnte es so weit sein.
Claire hoffte für beide Seiten, dass es nicht mehr lange dauerte.
„Ich kann es kaum erwarten, Ross wiederzusehen!“, sagte George. „Er ist mein Enkel. Er ist gerade aus der Army entlassen worden und soll schon auf dem Rückweg sein.“
„Ich bin sicher, dass er sofort zu Ihnen kommt“, versicherte sie ihm und tat so, als hätten sie das gleiche Gespräch nicht schon vor einer Stunde geführt.
Das Frühlingslaub der Bäume zog in einem verschwommenen Farbrausch an ihr vorbei – das zarte Grün der gerade sprießenden Blätter, die gelben Blüten der Osterglocken, das verschwenderische Lila und Pink der Wildblumen am Straßenrand.
Sie fragte sich, ob er darüber nachdachte, dass das sein letzter Frühling war. Manchmal war die Traurigkeit ihrer Patienten über solche Sachen, die Endlichkeit von allem, unerträglich. Doch im Moment zeigte George keinerlei Anzeichen von Schmerz oder Stress. Auch wenn sie sich gerade erst kennengelernthatten, spürte sie, dass er einer ihrer angenehmeren Patienten werden würde.
In seinen stilvollen, gebügelten Hosen und dem Golfshirt sah er aus wie jeder gut situierte Gentleman, der ein paar Wochen der Hektik der Großstadt entflieht. Jetzt, wo er alle Behandlungen abgebrochen hatte, wuchs sein Haar glänzend und schneeweiß nach. Er hatte im Moment auch eine sehr gesunde Gesichtsfarbe.
Claire war Privatschwester, die sich auf die palliative Pflege unheilbar Kranker spezialisiert hatte. Durch diesen Beruf lernte sie alle möglichen Menschen kennen – und deren Familien. Auch wenn sie sich hauptsächlich auf den Patienten konzentrierte, kam sie doch nicht umhin, sich auch mit der meist umfangreichen Verwandtschaft zu beschäftigen. Von Georges Familie hatte sie bisher noch niemanden kennengelernt. Seine Söhne lebten mit ihren Familien weit weg. Im
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