Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Stimme hörte. Das war mit das Schwerste an einer Krankheit wie der von George: Man sah zu, wie eine Person immer mehr verschwand, Stück für Stück weniger wurde. Am Ende fiel dann alles weg. Das Einzige, was blieb, war die Liebe, die man in seinem Leben gehabt hatte.
Sie erschauerte, als ihr klar wurde, dass am Ende ihres Lebens nichts übrig bleiben würde – es sei denn, sie fand endlich einen Weg, ihr Leben im Verborgenen zu beenden. „Er hat Glück, dass du da warst, um ihm zu helfen“, erwiderte sie leise.
Ross schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Irgendwas verschweigt mir mein Großvater über die Situation zwischen ihm und seinem Bruder.“
Claire hatte das auch gespürt, aber sie war daran gewöhnt, dass die Geschichten ihrer Patienten sich in ihrer eigenen Geschwindigkeit entfalteten – wenn überhaupt. „Das hier war ein großer Schritt.“
„Komm, suchen wir uns etwas zu essen“, wechselte er das Thema.
„Wir könnten in die Lodge gehen.“
„Ich habe eine bessere Idee.“ Ross holte seinen Autoschlüssel heraus. „Keine Sorge, es ist nicht weit.“
Seine unheimliche Fähigkeit, ihre Gedanken zu lesen, machte Claire ein wenig nervös. Sie war nicht daran gewöhnt, dass Leute in sie hineinsehen konnten. Die meisten Menschen, die sie traf, versuchten es nicht einmal, so erfolgreich war sie darin geworden, sich quasi unsichtbar zu machen. Ross aber war anders. Er war kein Mensch, vor dem man etwas verbergen konnte – zumindest nicht lange. Das machte es unglaublich riskant, ihn zu kennen – und gleichzeitig war sie fasziniert wie nie zuvor. Eine Faszination, die sich beim Anblick seines Wagensnoch steigerte. „Ein Cabrio! Können wir das Dach aufmachen?“
Er grinste und warf ihr eine Baseballkappe zu. „Das ist der Sinn und Zweck des Ganzen. Spring rein.“
„Warum bist du so nett zu mir?“
„Ich bin immer nett“, versicherte er ihr.
Sie dachte daran, wie sie wegen Georges Behandlung immer wieder aneinandergerieten. Und sie erinnerte sich an seinen Kuss. Ja, er wusste, wie man nett war.
Er drückte auf einen Knopf, und das Dach klappte zurück. Dann legte er den Gang ein und rollte vom Parkplatz.
Sie wusste nicht viel über Autos, aber sie spürte die Kraft des Roadsters, als sie die Hauptstraße erreichten und er Gas gab.
Claire war keine erfahrene Autofahrerin. Mit sechzehn hatte ihr Pflegevater Vance Jordan ihr das Autofahren beigebracht. Der gleiche Mann, vor dem sie sich jetzt versteckte. Es war irgendwie gruselig, daran zu denken, wie komplett sie ihm vertraut hatte. Zwei Tage, bevor sie mit angesehen hatte, wie er zwei unschuldige Jungen ermordete, war sie mit ihm noch eine Übungsrunde um den Block gefahren und hatte stolz gestrahlt, weil er sie als Vorbereitung zur theoretischen Prüfung die Verkehrsregeln abfragte.
Sie hatte die Prüfung nie abgelegt. Aber im Laufe der Zeit hatte sie einen Führerschein erworben – unter ihrem neuen Namen und lange, nachdem das Mädchen, das sie einst gewesen war, aufgehört hatte, zu existieren. Sie hatte lange gebraucht, bis sie in einem Auto neben einem Mann sitzen konnte, ohne dass ihr der kalte Schweiß ausbrach.
Ross Bellamy weckte jedoch ganz andere Gefühle in ihr – Sehnsucht und Frust. Zuneigung und ja, auch Lust. Nichts davon war empfehlenswert für jemanden in ihrer Situation. Sie steckte ihre Haare unter die Baseballkappe und drehte dann den Sendersuchlauf am Radio, bis sie einen Sender gefunden hatte, der ihr gefiel. Es war ein perfekter Abend am Anfangdes Sommers. In der Luft lag der kühle Geruch der wachsenden Natur. Im Dämmerlicht fanden sie einen altmodischen Drive-in, wo sie Root Beer mit Vanilleeis, Burger und Pommes frites zum Mitnehmen bestellten. Dann fuhren sie hinauf zu einem malerischen Aussichtspunkt am See, direkt an einer breiten Stelle, die von Felsen eingerahmt war. Hier landeten die Wasserfahrzeuge, und es gab einen langen Steg, an dem sie festmachen konnten. Im Moment schwamm dort nur ein einmotoriges Kleinflugzeug auf dem Wasser.
Claire überlief ein Schauer. Sie dachte an Vance Jordan. Als sie zu ihm gezogen war, hatten er und Teresa sie mit so einem Flugzeug zum Pier 8 am Hudson mitgenommen, um zu feiern. Damals war er ihr wie der perfekte Vater vorgekommen, so schneidig und selbstbewusst, wie er die Instrumente bedient hatte.
Sie schüttelte die Erinnerung ab und steckte einen langstieligen Löffel in das weiche Vanilleeis in ihrem Becher. Sie hatte seit Jahren kein Root Beer mit Eis
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