Sommerfest
nach oben. Wo Toto am offenen Fenster steht und winkt. Stefan zwingt sich, nicht noch einmal zurückzublicken, bis er um die nächste Ecke gebogen ist.
Der Abend ist jetzt auf der Zielgeraden. Auf einigen Dächern immer noch goldenes Restlicht. Sommerfest vorbei.
Es ist nicht weit bis zum Bahnhof, und Stefan ist sicher, dass jetzt nichts mehr passieren kann. Es kann ihm niemand mehr über den Weg laufen, der ihn davon abhält, das zu tun, was richtig ist: sich in den Zug setzen, losfahren und einen etwa sechshundert Kilometer langen Schlussstrich ziehen.
Im Bahnhof kauft er sich eine große Flasche Wasser. Da der Zug zehn Minuten Verspätung hat, setzt er sich auf eine Bank und lässt sich von einer großen LED – Wand an einem Haus hinter dem Bahnhof unterhalten. Die Nachrichten des Tages. In Hamburg ist eine Schulreform per Volksbegehren gestoppt worden. Im Golf von Mexikosprudelt noch immer Öl aus einem kaputten Bohrloch. Drei Millionen Menschen sollen heute auf dem Asphaltwurm unterwegs gewesen sein.
Der Zug kriecht in den Bahnhof, und Stefan steigt ein. Es ist nicht viel los, er hat einen kompletten Tisch für sich allein. Er trinkt Wasser und denkt an Diggo und die Bekloppten. An Frank Tenholt und Karin, Thomas und Mandy und Mandys Mutter, Typen wie Klaus Dudek und Karl-Heinz Rogowski, die man allein schon wegen ihrer Namen irgendwie einrahmen will. Er denkt an Murat und sein kaputtes Bein, an Tante Änne und Onkel Hermann. Im Kopf geht das alles durcheinander, aber irgendwann kommt er bei Omma Luise an und bei der Frage, was sein wird, wenn sie nicht mehr ist. Omma Luise war immer und wird immer sein, alle anderen sind gegangen, aber sie ist immer noch hier. Und irgendwo läuft ein Willy Abromeit herum, dem sie den einen Tanz verweigert hat, damals im Café Industrie, als das Tanzverbot kurzzeitig aufgehoben war, im Krieg, nach Stalingrad und bevor alles den Bach runterging.
Stefan denkt an seine Eltern und muss ein paarmal schlucken.
Der Zug fährt nicht.
Der Zug steht.
Die lassen sich immer wieder was Neues einfallen, denkt er. Auch so ein Satz von Oppa Fritz, ähnlich wie: »Die kommen auf Bolzen!«, in der Betonung wie »Die kommen auf Ideen!« Wer die sein sollten, wurde nie ganz klar, aber es gibt immer die, die einem das Leben schwer machen. Doch wenn man drüber nachdenkt, hat Charlie schon mit fünfzehn oder sechzehn gesagt, macht man sich das Leben immer selber schwer.
Der Zug fährt immer noch nicht.
Stefan geht nach vorne zur offenen Tür und blickt nach rechts und nach links, aber da ist nichts zu sehen. Dann kommt ein Pärchen Hand in Hand die Treppe hochgehastet. Beide sind vielleicht Anfang zwanzig, und der Junge hat einen Rucksack auf dem Rücken. Sie küssen sich wie wild, Stefan tritt zurück, damit der Junge einsteigen kann, nur um sich gleich wieder hinauszubeugen und seine Freundin weiterzuküssen. Sie hat Tränen in den Augen und sagt, sie will nicht, dass er wegfährt. Er sagt, er will es auch nicht, und am Freitag sei er wieder da. Sie küssen sich weiter.
Jeden Moment kann dieses Piepen kommen, denkt Stefan, welches das Schließen der Türen ankündigt.
Aber es kommt nicht.
»Ich vermisse dich schon jetzt!«, sagt das Mädchen.
»Die paar Tage schaffen wir schon«, sagt der Junge.
Das Mädchen meint, wenn er wieder da sei, wolle sie keinen Tag mehr von ihm getrennt sein. Vorabendserie live, denkt Stefan. Die sind also gar nicht übertrieben.
Plötzlich spricht der Zugchef: »Meine Damen und Herren, aufgrund einer Störung am Triebfahrzeug verzögert sich unsere Abfahrt noch um wenige Minuten, wir bitten um Ihr Verständnis.«
»Kriegt ihr nicht«, lacht der Junge. »Mein Verständnis gehört mir!«
Das Mädchen lacht auch und sagt, wegen ihr könne die blöde Lok komplett den Geist aufgeben. Dann fangen sie wieder an sich zu küssen. Stefan kann sich von diesem Anblick nicht losreißen. Da sind sich zwei ganz sicher, und darum beneidet er sie.
Jetzt sieht Stefan ein paar Meter weiter den Zugchef,wie er den Arm hebt und in eine Trillerpfeife bläst, mit vollen Backen, wie in einem Kinderfilm.
Endlich ertönt dieses Piepen, der Junge zieht den Kopf zurück, das Mädchen legt eine Hand auf ihren Mund, und Stefan schiebt plötzlich den Jungen zur Seite, zwängt sich durch den enger werdenden Spalt und rennt quer über den Bahnsteig und die Treppe hinunter.
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18
18 Mit nichts stehe ich vor dir, denkt er. Mit nichts als dem, was ich am Leibe trage, denn
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