Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
Elfen, die hier durch die Straßen spazierten, war Huntsdale ihr Zuhause. Sie kannte Pittsburgh, hatte Washington gesehen und Atlanta erkundet. Diese Städte waren ganz schön, aber zu voll, zu lebendig, und es gab dort zu viele Parks und Bäume. Huntsdale war keine florierende Stadt. Schon lange nicht mehr. Was bedeutete, dass es auch den Elfen dort nicht gutging.
Aus fast allen Winkeln und Straßen auf Ashlyns Weg drang der Lärm ihrer wüsten Gelage hervor. Aber verglichen mit den Massen von Elfen, die im Botanischen Garten von Pittsburgh herumsprangen oder sich auf den Rasenflächen von Washington tummelten, war das noch gar nichts. Mit diesem Gedanken versuchte sie sich unterwegs zu trösten. Hier gab es weniger Menschen – und auch weniger Elfen.
Je weniger, desto besser.
Die Straßen von Huntsdale waren keineswegs leer: Menschen gingen ihren Geschäften nach, spazierten herum, kauften ein, lachten. Für sie war es leichter: Sie sahen den blauen Elfen nicht, der mehrere geflügelte Elfenmädchen hinter einem schmutzigen Fenster bedrängte. Und auch die Elfen mit den Löwenmähnen, die die Stromleitungen entlangrannten, übereinanderpurzelten und auf einer großen Frau mit schiefen Zähnen landeten, bemerkten sie nicht.
So blind zu sein … Das wünschte Ashlyn sich insgeheim schon ihr ganzes Leben lang. Doch Wünsche änderten nichts. Und selbst wenn sie die Elfen plötzlich nicht mehr sehen müsste – das Wissen um die Wahrheit konnte man nicht einfach ausblenden.
Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und ging weiter, vorbei an der Mutter mit ihren offensichtlich erschöpften Kindern, vorbei an den Schaufenstern, auf denen sich Eisblumen bildeten, vorbei an dem gefrorenen grauen Schneematsch überall am Straßenrand. Sie fröstelte. Der Winter, der ihr immer endlos erschien, hatte bereits angefangen.
Ashlyn war gerade an der Kreuzung von Harper und Third Street vorbei – schon fast am Ziel –, da kamen sie aus einer Gasse: die beiden Elfen, die ihr seit zwei Wochen fast täglich nachliefen. Das Mädchen hatte lange weiße Haare, die ihm wie Rauchkringel vom Kopf abstanden. Ihre Lippen waren blau – nicht lippenstiftblau, sondern leichenblau. Sie trug einen ausgeblichenen braunen Lederrock, der mit dicker Kordel zusammengenäht war. An ihrer Seite trottete ein riesiger weißer Wolf, den sie abwechselnd als Stütze und Reittier benutzte. Als der Elf sie anstieß, stieg Dampf von ihrer Haut auf. Sie bleckte die Zähne, schubste ihn weg, schlug nach ihm: Er lächelte nur.
Und er sah umwerfend aus, wenn er lächelte. Er leuchtete immer ein wenig, als würden heiße Kohlen in ihm brennen. Seine schulterlangen Haare schimmerten wie feine Kupferdrähte, die Ashlyn die Haut aufgeschlitzt hätten, wenn sie mit den Fingern hindurchgefahren wäre. Aber das hatte sie nicht vor. Er konnte noch so braun gebrannt und schön sein, er wäre selbst dann nicht ihr Typ, wenn er wirklich ein Mensch gewesen wäre. Sein Gang verriet, dass er genau wusste, wie attraktiv er war. Und weil er so auftrat, als hätte er über alles und jeden das Sagen, wirkte er größer. Aber eigentlich war er gar nicht groß – jedenfalls nicht so groß wie die Knochenmädchen am Fluss oder die seltsamen Borkenmänner, die in der Stadt herumstreunten. Er war fast durchschnittlich, nur einen Kopf größer als Ashlyn.
Immer wenn er näher kam, roch sie Wiesenblumen und hörte das Rascheln von Weidenzweigen, als säße sie an einem der seltenen Sommertage am Ufer eines Sees: ein Hauch von Hochsommer zu Beginn des frostigen Winters. Und sie wollte diesen Hauch festhalten, in ihm schwelgen, sich darin wälzen, bis die Wärme tief in ihre Haut sickerte. Der fast unwiderstehliche Drang, näher an diesen Elf heranzugehen, überhaupt an irgendeins dieser Geisterwesen näher heranzugehen, machte ihr Angst. Er machte ihr Angst.
Ashlyn beschleunigte ihren Schritt, aber nicht so sehr, dass sie rannte. Nicht rennen . Wenn sie rannte, würden sie sie jagen: Elfen machten Jagd auf jeden, der vor ihnen floh.
Sie verschwand im Comic-Laden. Zwischen den Reihen aus einfachen Holzregalen fühlte sie sich sicherer. Meine Sphäre .
So war sie ihnen jeden Abend entkommen: Sie versteckte sich, bis sie vorbeigingen, und wartete, bis die Luft rein war. Manchmal brauchte sie mehrere Versuche, aber bis jetzt hatte es immer geklappt.
Sie wartete im Comic-Laden und hoffte, dass sie sie nicht gesehen hatten.
Da kam er herein – er trug einen Zauber,
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