Ich kenne dein Geheimnis
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|9| PROLOG
Im Erste-Klasse-Wagen des Eurostar nach Venedig spielte die Klimaanlage verrückt. Die meisten Reisenden dösten vor sich hin,
lasen oder wechselten einige Worte mit ihren Sitznachbarn. War das kühle Lüftchen mal wieder versiegt, versuchten sie sich
mit der Zeitung ein wenig Luft zuzufächeln. Nur ein Grüppchen wild gestikulierender Japaner in der letzten Sitzreihe ließ
sich von der Hitze nicht beeindrucken. Ihre lautstarke Diskussion schien niemanden zu stören, ganz im Gegensatz zu dem penetranten
Quengeln eines kleinen Jungen, der auf dem Schoß seiner Mutter auf der Gangseite saß. Sie versuchte ihn mit einem Gummihündchen
abzulenken, doch er hörte nicht auf zu jammern.
»Schau mal, Tommy«, sagte die Frau und schaukelte ihren Sohn auf den Knien, »da kommen zwei Polizisten!« Sie betonte das letzte
Wort so dramatisch, als handele es sich bei den beiden um furchteinflößende Ungeheuer. Einen Moment lang verstummte das Kind,
wie hypnotisiert starrte es die näherkommenden Männer an.
» Ciao , piccolino !«
, grüßte Michele Calabrò von der Bahnpolizei im Vorübergehen.
»Sag dem
signore
guten Tag, mein Schatz!« Aber ehe die Frau die Hand des Kleinen nehmen konnte, um damit zu winken, hatten die beiden Uniformierten
ihre Sitzreihe längst passiert.
»Wir sind fast durch«, Calabrò seufzte. Sein Hemd war |10| schweißnass und klebte ihm am Rücken, was aber durch das Dunkelblau des Stoffes zum Glück nicht weiter auffiel.
»Endlich, hier drin geht man ja ein«, stöhnte sein Kollege Antonio Celletta. »Es ist alles in Ordnung, denke ich, lass uns
zurückgehen.«
»Sicherheitshalber noch einen Blick in die Toilette.«
»O ja, der Hort des Grauens!«, frotzelte Celletta. »Obwohl die Toiletten regelmäßig saubergemacht werden, weiß man nie, was
einen dort erwartet.«
Die Anzeige war grün.
»Es ist frei.«
Calabrò drückte die Klinke, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Er versuchte es ein zweites Mal, jetzt energischer. »Die
Tür ist von innen blockiert. Da hatte es jemand verdammt eilig …«
»Lass mich mal.« Celletta nahm kurz Anlauf und warf sich gegen die Tür. Sie sprang sofort auf. Ein widerlicher Geruch nach
Exkrementen und süßlichem Parfüm schlug ihnen entgegen. Angeekelt wandten sie sich ab.
»Mein Gott«, stöhnte Calabrò, sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
Auf der Klobrille saß eine blonde Frau, die Beine gespreizt. Der Kopf war gegen die Wand gesunken, die Augen weit aufgerissen,
der Mund halb geöffnet. Zwischen ihren üppigen Brüsten, die ein großzügiger Ausschnitt mehr enthüllte als bedeckte, steckte
eine lange Hutnadel. Voller Abscheu starrten die beiden Polizisten auf die Tote, deren Füße in hochhackigen weißen Lacksandalen
steckten. Die Nägel waren blutrot lackiert. Siedendheiß fiel Calabrò ein, dass seine Frau ein ähnliches Paar Schuhe besaß.
Er zuckte zusammen.
Die beiden Polizisten standen einen Moment lang einfach nur da und sagten kein Wort. Sie hatten schon viel erlebt, aber |11| eine Leiche hatten sie noch nie gefunden, noch dazu auf einer Zugtoilette.
»Pass auf, dass niemand in die Nähe kommt«, Calabrò presste sich ein Taschentuch auf Mund und Nase und zwängte sich durch
die Tür.
Celletta warf einen raschen Blick in den Erste-Klasse-Wagen. »Alle sitzen auf ihren Plätzen.«
»Was für eine Schweinerei, verdammt, was für eine Schweinerei!«, schimpfte Calabrò und wartete, bis sein Kollege ebenfalls
am Tatort war. Dann verriegelte er die Tür von innen. Natürlich wussten sie, dass sie nichts berühren durften, aber in der
engen Toilettenkabine war das gar nicht so einfach. Mit äußerster Vorsicht beugte sich Calabrò über das Opfer. Die blauen
Flecken am Hals deuteten darauf hin, dass die Frau erwürgt worden war. Ihre Stirn war kalt, sie musste also schon mehrere
Stunden tot sein.
»Vielleicht finden wir einen Ausweis«, Calabrò schaute sich suchend um. Auf dem Boden lag eine halb geöffnete Handtasche,
er hob sie auf und durchsuchte sie.
»Hier ist nichts, aber vielleicht finden wir heraus, wo sie gesessen hat, und können sie anhand ihres Gepäcks identifizieren.«
Celletta warf einen erneuten Blick auf das Gesicht der Toten. Irgendetwas daran ließ ihn nicht los. »Wie alt mag sie wohl
gewesen sein?«
»Um die vierzig, schätze ich, vielleicht jünger.«
»Ein Jammer, so eine schöne Frau«, Calabrò seufzte tief und wandte sich
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