Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
Und dazwischen wuchsen blühende Pflanzen und Sträucher, von denen einige die metallenen Skulpturen umrankten. Trotz der Schäden, die die langen Winter anrichteten, gediehen die Pflanzen unter Seths aufmerksamer Fürsorge prächtig.
Als ihr Herz wieder langsamer schlug, hob Ashlyn die Hand, um anzuklopfen.
Doch bevor sie dazu kam, flog die Tür auf und Seth stand grinsend auf der Schwelle. Im Licht der Straßenlaternen wirkte er fast ein wenig bedrohlich, da es seine Augenbrauenpiercings und den Ring in seiner Unterlippe hell aufblitzen ließ. Wenn er sich bewegte, fielen ihm seine blauschwarzen Haare ins Gesicht, wie winzige Pfeile, die auf seine ausgeprägten Wangenknochen zeigten. »Ich dachte schon, du versetzt mich.«
»Wusste gar nicht, dass du mich erwartest«, gab Ashlyn möglichst beiläufig zurück. Er sieht jeden Tag geiler aus.
»Erwartet hab ich dich auch nicht. Nur gehofft, dass du kommst. Wie immer.« Er rieb sich die Arme, die abgesehen von den Ärmeln seines schwarzen T-Shirts unbedeckt waren. Trotz seines eher schmalen Körperbaus waren sie – ebenso wie der Rest seines Körpers – sichtlich muskulös. »Kommst du rein oder willst du hier draußen stehen bleiben?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.
»Sonst noch jemand da?«
»Nur ich und Boomer.«
Er ging hinein, weil sein Teekessel pfiff. »Hab mir eben ein Jumbosandwich geholt. Willst du die Hälfte abhaben?«, rief er zurück.
»Danke. Für mich bloß Tee.«
Ashlyn ging es gleich besser; wenn sie in seiner Nähe war, fühlte sie sich sicher. Seth war der Inbegriff der Gelassenheit. Als seine Eltern zu irgendeinem missionarischen Projekt aufgebrochen waren und ihm ihren gesamten Besitz überließen, hatte er das Geld nicht einfach sinnlos verprasst. Davon abgesehen, dass er sich die Eisenbahnwaggons gekauft und sie zu einer Art Wohnwagen umgebaut hatte, war er ziemlich auf dem Teppich geblieben. Traf sich mit Freunden, feierte ab und zu. Und er redete davon, dass er studieren wollte, Kunst, aber damit hatte er es nicht eilig.
Sie ging um die Bücherstapel auf dem Fußboden herum: Chaucer und Nietzsche lagen direkt neben der Prosa-Edda ; das Kamasutra lehnte an der Weltgeschichte der Architektur und einem Roman von Clare Dunkle. Seth las alles.
»Schieb Boomer einfach zur Seite. Der ist superträge heute.« Er deutete auf die Boa, die auf einem der Sessel im Wohnzimmer ein Nickerchen machte. Er hatte einen grünen und einen hellorangefarbenen Sessel, beide wie ein C geformt. Da sie keine Armlehnen hatten, konnte man sich auch im Schneidersitz daraufsetzen. Und jeweils daneben standen einfache, mit Bücher- und Papierstapeln bedeckte Holztische.
Vorsichtig hob Ashlyn die zusammengerollte Boa hoch und trug sie zu dem Sofa auf der anderen Seite des schmalen Raums.
Seth brachte zwei geblümte Tassen auf farblich passenden Porzellanuntertellern, beide zu zwei Dritteln mit Tee gefüllt. »Hochgebirgs-Oolong. Heute Morgen frisch reingekommen.«
Sie nahm ihm eine Tasse ab – wobei ein bisschen Tee überschwappte – und probierte. »Lecker.«
Er ließ sich gegenüber von ihr nieder. Dabei hielt er seine Tasse in der einen und die Untertasse in der anderen Hand und schaffte es seltsamerweise, trotz des schwarzen Nagellacks würdevoll auszusehen. »Hast du beim Crow’s Nest irgendwen getroffen?«
»Glenn hat mich angehalten. Deine Boxen sind da.«
»Gut, dass du nicht reingegangen bist. Da war gestern Abend eine Razzia.« Er runzelte die Stirn. »Hat Glenn dir nichts davon erzählt?«
»Nein, aber er wusste ja, dass ich nicht bleiben wollte.« Sie klemmte die Füße unter ihren Po und freute sich, als Seths Miene sich wieder aufhellte. »Wen haben sie denn erwischt?«
Sie nippte an ihrem Tee und machte es sich bequem, um sich den neuesten Klatsch auftischen zu lassen. Meistens kauerte sie sich hier einfach irgendwohin und hörte zu, während Seth sich mit all den Leuten unterhielt, die fast jeden Abend seine Räume füllten. Dann konnte sie – wenigstens für kurze Zeit – so tun, als wäre die Welt das, was sie zu sein schien, nicht mehr und nicht weniger. Seth bot ihr einen Schutzraum, in dem sie an die Illusion von Normalität glauben konnte.
Nicht deshalb hatte sie angefangen, ihn regelmäßig zu besuchen, nachdem sie ihn vor ein paar Jahren kennengelernt hatte; dazu war sie allein deshalb übergegangen, weil sie wusste, dass sein Zuhause Wände aus Stahl besaß. Aber es war einer der Gründe dafür, dass sie sich
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