Sommermond
Warnsignal. Er musste sich schonen. Dennoch dachte er an Alex, und hingegen all der anderen Sorgen ließ sich dieser Gedanke nicht einfach vertreiben. Er war hartnäckig und schaffte ein nahezu perfektes Abbild des Blonden vor Bens innerem Auge. Am liebsten hätte er Nick nach Alex gefragt, doch erschien ihm das nicht gerade als beste Möglichkeit. Deshalb musste er sich weiterhin gedulden und den Gedanken so gut wie möglich zur Seite schieben. Zumindest war das sein Plan, doch genau dieser wurde schon im nächsten Moment durchkreuzt. Nick richtete sich plötzlich auf, fuhr sich mit der flachen Hand über die Lippen und wirkte mit einem Mal wütend und aufgebracht. Er blieb am Fußende des Bettes stehen und umklammerte die Edelstahlumrahmung so fest, dass seine Knochen spitz hervorstachen.
„Ohne dieses Arschloch wäre das alles nie passiert!“, fauchte er.
Ben wusste sofort, wer gemeint war. In Anbetracht der Umstände war das nicht besonders schwierig. Er konnte Nick verstehen. Teilweise. Für ihn musste es aussehen, als ob Alex ihn bewusst in die ganze Sache mit hineingezogen hätte. Erschwerend kam hinzu, dass Nick und Alex nicht gerade das beste Verhältnis zueinander hatten.
Dennoch kam ihm keine passende Erwiderung in den Sinn. Nicks Worte verletzten ihn. Und obgleich er wusste, dass Alex unschuldig war, fiel ihm in jenem Moment keine passende Verteidigung für den Blonden ein. Er wollte viel sagen, die Wahrheit erzählen. Doch er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Die Geschichte war lang, beinhaltete viel Verworrenheit und zahlreiche intime Details, die er nicht preisgeben wollte.
„Nein“, antwortete er schließlich und entschied sich dabei für die möglichst kürzeste Variante. „Alex wollte mich nur beschützen.“
Zu mehr Worten war er nicht fähig. Stattdessen wandte er den Blick wieder ab und starrte nach rechts aus dem Fenster. Ein graues Wolkenbett hing am Himmel. Grau an grau, als hätte jemand einen dichten Schleier über die Erde gelegt. Es schneite nicht mehr. Das wirkte schon fast etwas ungewöhnlich, denn der viele Schnee war in den letzten Monaten zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden.
Ben konnte spüren, dass Nick noch immer wütend war. Die unausgesprochene Verständnislosigkeit des Schwarzhaarigen hing elektrisierend in der Luft. Er spürte auch, dass Nick am liebsten etwas auf seine letzten Worte entgegnet hätte. Doch er tat es nicht. Vermutlich wusste er, dass Ben sich schonen musste und wollte ihm deshalb kein weiteres Mal zu nahe treten.
„Hast du noch Schmerzen?“, fragte er nach einigen Sekunden des Schweigens. Offenbar versuchte er vom Thema abzulenken.
„Es ging mir schon besser…“, erwiderte Ben.
Dann trat wieder Stille ein. Das Schweigen sagte in jenem Moment mehr als Worte. In einer gewissen Hinsicht tat Nick Ben sogar leid. Er wusste, dass dieser sich nur um ihn sorgte und für ihn da sein wollte. Dennoch konnte er mit dieser alten Vertrautheit nicht viel anfangen. Nick war ein Teil aus seinem alten Leben und dieses alte Leben hatte er mit der Zeit in Hamburg längst hinter sich gelassen. Er hatte keine Gefühle mehr für Nick, vielleicht nicht einmal mehr freundschaftliche. In seinem jetzigen Leben spielte Alex die Hauptrolle. Für Nick war da kein Platz mehr.
Nach einer Weile der Ruhe, die Ben gut tat, klopfte es an der Tür. Ben blickte sofort auf. Die Tür öffnete sich und herein traten seine Eltern. Als seine Mutter sah, dass er wach war, stürmte sie auf ihn zu, nahm seinen Kopf in ihre Hände und presste ihre Lippen gleich mehrmals hintereinander feucht auf seine Stirn.
„Schön“, nuschelte sie und nahm ihn etwas in den Arm, „dass du wach bist, Schatz. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“
Ben ließ die Umarmung zu, während er versuchte, die Kanüle an seiner Hand zu schützen. Erst nach ganzen Minuten ließ seine Mutter wieder von ihm ab. Ihre Augen waren glasig und auf ihren Wangen glänzten Tränen.
„Peter, sag dem Arzt Bescheid, ja?“, wandte sie sich an Bens Vater.
Dieser gehorchte, wollte den intimen Mutter-Sohn-Moment offenbar nicht ruinieren.
„Wie lange ist er denn schon wach?“, fragte sie in Nicks Richtung.
Ben kam sich dabei etwas dämlich vor. Seine Mutter hätte auch ihn fragen können. Warum also der Umweg über Nick?
„Noch nicht mal zwanzig Minuten“, erwiderte Nick.
Doch Bens Mutter schien nur mit einem halben Ohr hinzuhören. Sie lächelte benommen und ließ sich auf dem Stuhl neben Bens Bett
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