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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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niedrig gehalten. Hatten sich, jeder für sich, ganz im stillen einen Hinterhalt offengelassen, als ob sie eine Weile ihren neu entdeckten Neigungen folgen und darauf warten könnten, daß sie wieder anderswo und für anderes – »Wichtiges« mochten sie es immer noch nennen – benötigt würden. Ganz deutlich, bedrängend sogar, spürten sie doch bei aller Lebensfülle einen Vorrat in sich, der niemals angefordert wurde, ein Zuviel an Fähigkeiten und Eigenschaften, die sie für nützlich und brauchbar hielten, die eine Vergangenheit und, so hofften sie immer noch, eine Zukunft hatten, aber keine Gegenwart. Was eine Zeiterscheinung war, bezogen sie noch auf sich. Sie waren es, die nicht gebraucht wurden. Unbenötigt saßen sie nun also die ganze Sommernacht hindurch in der niedrigen Stube von Irene und Clemens, die Gardinen an den Fenstern paßten zu den Decken auf den Tischen, altes Geschirr und altes Gerät waren sorgfältig im Raum verteilt, an den Wänden hingen die Bilder, die Clemens malte, auf denen langbeinige Reiher in einer Wiese standen oder eine Gondolfiere in den roten Abendhimmel davonflog. Bessere Bilder, dachte er, würde er nicht mehr malen, selbst wenn er Tag und Nacht zum Malen Zeit haben würde. Und der Stumme Gast, der vielleicht ein Faun war, oder Herr Oberon persönlich, der hatte schon längst seinen Zauberstab erhoben und hatte sie alle verzaubert zu Puppen in einemPuppenhaus. Sie spürten es, fragten sich nach ihrer Schuld und gaben so zu erkennen, daß sie auf dem Grund der Zeit noch immer nicht angelangt waren, daß sie noch immer in ihrer Gondolfiere saßen. Daß sie nicht bereit waren, auszusteigen, obwohl die Gondel längst aufgesetzt hatte. Fürchteten sie, daß sie sich den Bodenverhältnissen nicht anpassen könnten? Es war eine Augenblicksstimmung, in der grauen Stunde zwischen Nacht und Tag, sie waren übermüdet. Gespenster, sagte Irene mit ihrer fröhlichsten Stimme, kommt ihr euch nicht alle wie Gespenster vor? und Ellen sagte schneidend: Keineswegs. – Die Häuser brannten ab, aber das war viel später. Es gab noch einige Sommer, jeder von ihnen drohte die Nachahmung des vorigen zu werden. Sie vertrugen sich noch lange sehr gut, tauschten Rezepte aus, Blumensamen, tranken abends Rotwein und erzählten sich ihre Träume, behielten aber diejenigen für sich, die sie verraten hätten.
    Der Morgen kam, als sie hinaustraten. War es der Wein, waren es die Tränen – Ellen sah den roten Mond doppelt und rief laut: He, ihr! Der Mond ist doppelt! – Ja, Mutter, ja! sagte Jenny gönnerhaft. – Irene umarmte sie: Du nimmst mir doch die Gespenster nicht übel, gerade wir sollten uns nicht entzweien. Ellen dachte kühl: Warum eigentlich nicht. Sie war mit einem Schlag nüchtern. Da rief Erna Schependonk von jenseits der Straße zu ihnen herüber: Seht ihrs nicht? In Tarnow brennt der Bullenstall!
    Da sahen sies. Also war die Feuersirene, die Luisa vorhin angeblich gehört hatte – mitten in der Nacht! Nun halt aber die Luft an! –, doch keine Täuschung gewesen. Nun war ihre stille Straße besetzt mit schwarzenschemenhaften Gestalten. Alle sahen unbeweglich nach Osten. Und der rote Saum am östlichen Himmel war eben nicht das erste Licht der aufgehenden Sonne, sondern der Widerschein des Feuers, aus dem eine mächtige schwarze Rauchwolke kerzengerade aufstieg. Und in Ellens Augen und in Irenes Augen stand eine Sekunde lang der gleiche Schrecken: So auch uns. Und jede sah das Schreckensbild in den Augen der anderen, und sie schlugen vor ihrer Verwandtschaft die Augen nieder.

18.
    Häuser haben wie Menschen ihre schwachen Zeiten. Häuser können stärker sein als die Menschen, die in ihnen leben und sie halten, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Häuser können schwächer werden als ihre Bewohner und von ihnen Fürsorge und Zuwendung brauchen, eine andauernde Aufmerksamkeit. Bedrohlich wird es, wenn die Schwachzeiten von beiden zusammenfallen.
    Der Bullenstall war, das wissen wir heute, das erste Signal. Das Grauen, das sich in der ganzen Gegend verbreitete, als die Nachrichten ruchbar wurden: daß die Tiere, von den Menschen unter Lebensgefahr gerettet, ins Feuer zurückliefen. Frühmorgens, wir standen alle noch auf der Straße, kam Schependonks Sohn Jürgen auf seinem Motorrad vom Brand zurück, rußverschmiert, mit angesengtem Haar. Erst trank er hintereinander zwei Flaschen Bier, dann wusch er sich unter der Pumpe. Dann redete er, stoßweise. Sie seien ja noch rein in den

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