Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
tolerieren zu wollen.
    Viermal soviel Bomben wie bei der Invasion im Juni 1944 haben die Amerikaner bisher auf den Irak abgeworfen. Kann ich nicht glauben. Außerdem ist Bombe nicht gleich Bombe. Solche Rechnungen wurden damals im Vietnamkrieg auch aufgemacht. Es gibt ja große und kleine, und es gibt Riesendinger.
    Lese gerade im Kursbuch von 1968 über die Anti-Schah-Demo. Wenn die Linke nur einen Bruchteil dieser Entrüstung aufgebracht hätte gegen Saddam Hussein, dann wäre es vielleicht gar nicht zum Golfkrieg gekommen.
    Bittel: Ein Mann habe in München auf sein eigenes Auto eingeschlagen mit einem Hammer:«Warum tun Sie das?»-«Wegen des Krieges am Golf.»
    Angehöriger eines verwirrten Volkes zu sein. Aber vielleicht ist die gesamte Menschheit ja wahnsinnig geworden. Ich hab’ auch schon’n ganz schönen Zacken.
     
    Früher war’s der Balkan, jetzt ist es der Golf. Aber den Balkan haben wir noch zusätzlich am Hals.
    «Wer hätte das gedacht!»
    Die Sache wird für unsere Anti-Amerikaner dadurch kompliziert, daß Saddam geradezu selbstmörderisch auch Israel angreift. Er muß doch wissen, daß mit den Leuten nicht zu spaßen ist. Einen Zweifrontenkrieg«vom Zaun zu brechen», nur so aus Gesinnung? – Gasmasken werden an die Israelis ausgegeben. Kinder. – Das sind Aktivitäten, um die Israelis davon abzuhalten, Gegenschläge zu starten. – Ein ziemliches Durcheinander.
    Das Hätschelkind der Linken, der Palästinenserführer, biedert sich an bei Saddam.
    Am Ende werden sicherlich die Deutschen an allem schuld sein.

Nartum So 20. Januar 1991, Regen
     
    Jede Stunde Nachrichten hören.
    Wüste Tage. Ich schrieb sozusagen seelenruhig immer weiter.
     
    Riga: Lettlands Innenministerium gestürmt. 100 sowjetische Soldaten. Tote, Verletzte. Die Russen wissen natürlich von nichts.
    Irak /Raketen.
     
    Landtagswahl in Hessen: Die Roten sind wieder dran. Abends sehr interessanter«Talk im Turm». Seit langem die interessanteste Sendung dieser Art. Unglaublich, wie rabulistisch die Araber ihre Sache verteidigen. Gegen diese Leute kommt man nur an, wenn man sich trainieren läßt. Am besten Geldhahn zudrehen.
    Ist das Lügen im Koran erlaubt?

Nartum Mo 21. Januar 1991
     
    I924: Wladimir Iljitsch Lenin gestorben
    Wüster Tag. Morgens Rotenburg. Auslegeware,«naturverbunden»für mein Schlafzimmer ausgewählt, sonst kriege ich womöglich wieder Leibschneiden. Nachmittags nur wenig tun können. – Gegen Abend nach Oldenburg, Pseudo-Idioten-Streik, wie die Studenten eben so sind. Sie wollten mich nicht reinlassen in die Universität. Warum? Ich ging einfach an der Barrikade vorbei. Hinterher wollten sie mich nicht wieder rauslassen. Ich öffnete ein Fenster und sprang hinaus. Soweit kommt das noch, daß sie einen alten Knastrologen einsperren! Transparent an einem Balkon:«Kein Blut für Öl!»
    Trotz des Streiks kamen 20 Studenten und diskutierten mit mir. Ich sagte, daß die Streikerei doch sinnlos ist, Kindergärten zum Demonstrieren zu führen, das sei widerwärtig. Das erinnere mich an die Nazi-Zeit, wo wir auch mit Wimpel im Gleichschritt marschieren mußten.
    Ich sprach über Sachunterricht, meine Demonstration: der Bleistift, weshalb er sechseckig ist, und wie lang wohl ein Strich ist, den man mit einem Bleistift ziehen kann usw. Wetten wurden abgeschlossen, aber keiner hat’s ausprobiert. Dabei hätte man das statistisch ganz schnell rausgekriegt. – Schließlich die Erkenntnis, daß man anhand der Meditation über einen Bleistift unserer Kultur beikommen kann. Der in der Pädagogik so oft beschriene«Bildende Wert». Dasselbe läßt sich auch mit einem Glas Wasser demonstrieren.
    Copei, der große Pädagoge,«Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß», die Sache mit der Kondensmilchbüchse, weshalb man zwei Löcher benötigt, um an die Milch zu kommen. So eine Art Paradebeispiel, wie die Vogelkästen von Kerschensteiner. Die Chinesen kamen damals von weit her angereist, wie er das macht, diesen modernen Unterricht. Und sie wollten eine Schule besichtigen, wo sein Unterricht praktiziert wird: Es gab keine. – Na, Vogelkästen brauchten sie in China später ja auch nicht mehr. Mao hat, unter dem Beifall unserer Linken, alle Vögel totschlagen lassen. Unnütze Fresser. Inzwischen gibt’s wahrscheinlich wieder welche. Die Natur denkt sich das Ihre.
     
    Nun im Bett, die VI. von Tschaikowski: Jahre des Lebens. – Keine Regung mehr. Alles tot.
    Morgens Streitereien wegen Brüssel. Einen viel zu

Weitere Kostenlose Bücher