Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
vor einem Telefon, und er hatte noch ein anderes in der Hand, ein drahtloses, auf dem er von seiner offenbar hysterischen Frau angerufen wurde, ob er die Kinder nicht abholt aus dem Kindergarten? – Er demonstrierte mir, wie er es hinkriegt, daß er die Ruhe bewahrt, wenn ihn seine Frau anruft. An der Außenwand des nagelneuen Gebäudes allerlei Kuben und Pyramiden in poliertem Granit, die aus dem Mauerwerk brechen. Das ist Kunst. Was das wohl gekostet hat! Tragisch! Wahrscheinlich ist der Architekt, der das Gebäude errichtet hat, äußerst beredt.
Die Friedensleute haben in Berlin Schaufenster eingeworfen. Wie nennt man das?«Kontraproduktiv»?
Sie haben nicht nur Angst. Dies kumpelhafte Rummarschieren ist auch ein Ausdruck von schlechtem Gewissen.
Mitternacht.
Die kretinhaften Gebärden jubelnder Friedensmarschierer. Alle sind für den Irak, für den Diktator also. Und wie sie kneifen, wenn es ernst wird: Husch! verschwinden sie hinter der nächsten Hausecke.
Und immer dieses Grinsen bei ernsten Anlässen.
Dies sind die historischen Tage, da geht’s um die Wurst. Die Araber sind mir unheimlich, die Amerikaner kann ich besser verstehen, das sind schließlich unsere Leute. Im übrigen gibt’s doch einen Aggressor, der in Kinderkliniken den Stecker aus der Brutmaschine gezogen hat.
Die Israelis hocken unterdessen im Keller und lauschen, ob sie die ersten Gasraketen hören. Galinski bittet sich Respekt und Mitgefühl für die Juden aus.
«Hörzu»erschien, mit meinem etwas kümmerlichen Beitrag.
Ich habe die zweite Sendung auf den Weg gebracht. Das gibt später mal ein interessantes Buch: Das Jahr 1991. Eventuell auch Gerüst für ein vollständiges Jahrbuch.
Aus Litauen Schlimmes. Denen geht es jetzt an den Kragen. Die französische Ausgabe von«Aus großer Zeit»ist erschienen. Sieht gut aus.«Les temps héroïques».
Wollen die ganze Chronik bringen.
2001: Taten sie nicht. Nach dem ersten Band war Schluß. Den«Böckelmann»haben sie rausgebracht:«Notre Prof», und bei Encre erschien 1980 das KZ-Buch:«Allemands le saviez-vous? (Des témoins d’hier parlent enfin)».
Ein sehr schönes, nie gehörtes Concerto grosso von Händel, eine Violinsonate von Haydn, Hornkonzert von Mozart (schrecklicher Ohrwurm).
«Echolot»: Bittel kam, wir sprachen die ganze Latte durch, auch Simone, die ihm zeigte, wie weit wir sind.
Anfrage der FAZ: Die Deutschen und die Angst. Erledigte ich telefonisch. – Per Post ein altes Fotoalbum – ach Gott! – und eine Mappe mit Liebigs Fleischextrakt-Etiketten, ein Album und ein Tagebuch.
Bricht der Krieg aus gegen Saddam. Raketen auf Israel. Große Sorge aller Leute, ob die Israelis eingreifen.
Saddam nennt den Krieg«die Mutter aller Schlachten». Er sitzt am Tisch mit seinen Getreuen wie Jesus und die Jünger auf Leonardos«Abendmahl». Wie ruhig er ist, sie sollen sehen, er hat alles im Griff. Die Bluse schön gebügelt.
Massen von Soldaten stehen einander gegenüber. Sogar der Senegal schickt 500 Mann gegen den Irak.
Surreale Bilder von grünen Explosionen auf braunem Hintergrund. Immer dieselben.
Wir haben Soldaten nach Kurdistan geschickt.
Nartum Sa 19. Januar 1991
Das deutsche Verteidigungsministerium hat bekanntgegeben, die deutschen Soldaten in der Türkei fühlten sich angesichts der alliierten Erfolge nun«entspannter». Die haben also vorher Angst gehabt.
40 Karnevalsvereine haben ihre diesjährigen Festivitäten wegen des Krieges abgesagt. Auch idiotisch. Was haben die Karnevalsumzüge mit den Arabern zu tun?
In der SU Wirtschaftsminister zurückgetreten. Demonstrationen hier bei uns, aber keinesfalls für den Konflikt in Litauen.
Paule hat sich wieder ein Huhn gegriffen, die Federn stoben. Ich bemerkte es oben und schrie um Hilfe.
«Daß Saddam 12 Resolutionen der Vereinten Nationen in den Wind geschlagen hat, ist (für die Deutschen) Anlaß, nach einer 13. oder 14. zu rufen», sagt ein K. A. in der FAZ. Fabelhaft, Wort für Wort zu unterschreiben.
Die Deutschen sind in gewisser Weise infantil, ja debil.
Wo bleiben die Proteste des PEN gegen Saddam? Man muß schon dankbar sein, daß der Verein nicht gegen die Amerikaner protestiert. Die Raketen auf Israel setzen manchen hier in Verlegenheit.
18 Uhr: Umsturz in Lettland, die Kommunisten wollen wieder an die Macht.
In den Golf-Nachrichten wimmelt es von Zahlen. Soundsoviel Raketen, Tote, Flugzeuge. Ägypten und Syrien scheinen einen Israel-Gegenschlag
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