Sonnenfinsternis: Kriminalroman
bodenloses Loch zu fallen, erst langsam, dann immer schneller, bis alles um ihn herum schwarz wurde.
Kapitel 1
Ich sass auf meinem alten, abgewetzten Drehstuhl in unserem Büro an der Ämtlerstrasse in Zürich, Füsse auf dem Schreibtisch, Hände hinter dem Kopf verschränkt, und unterhielt mich mit Mina. Es war früh an einem wunderschönen Hochsommer-Nachmittag, der direkt aus einer Broschüre von Schweiz Tourismus zu stammen schien. Die Sonne brannte vor unseren Fenstern gnadenlos auf die stöhnende Stadt hernieder. Wir hatten keine Klimaanlage.
Unser Büro befand sich im Süden Zürichs, im dritten Stock eines grauen Geschäftshauses in der Nähe der Schmiede Wiedikon. Es war winzig und bot kaum Platz für die beiden bescheidenen Schreibtische, den kleinen ovalen Besprechungstisch in der Mitte und die wenigen anderen abgewetzten Möbel stücke. Der Verputz bröckelte von den Wänden und auch die Innen ein richtung würde kaum je in ‹Schöner Wohnen› erscheinen. Trotzdem konnte ich mir meinen Teil der Miete nur leisten, weil er ungleich kleiner war als derjenige meiner Büropartnerin Mina.
Mina Portmann war eine der mittlerweile über dreissigtausend Deutschen, die sich in Zürich niedergelassen hatten. Sie kam aus dem Rheinland und war einundvierzig, blond, süss und klein. Sie behauptete, sie sei einsfünfundsechzig, aber ich hatte den dringenden Verdacht, dass sie die hinteren beiden Ziffern absichtlich vertauschte. Mina war nicht ihr Geburtsname, sondern sie hiess eigentlich Mirabelle Natalie, aber nach eigenen Angaben nannte sie ausser ihrer Mutter niemand so. Sie hatte mit neunzehn in Köln geheiratet und sich mit vierundzwanzig in eine Schweizerin verliebt, der sie nach Zürich gefolgt war. Bald darauf war sie zwar wieder Single gewesen, aber dafür hatte sie zwischen zeit lich ihre Liebe zu Zürich entdeckt und hielt der Stadt seither die Treue.
Mina war nicht nur meine Bürokollegin, sondern auch meine gele gent liche Chefin. Genauer gesagt half sie mir, auf meinen eigenen ökonomisch wackligen Beinen zu stehen, indem sie mich gelegentlich an einem ihrer Fälle beteiligte. Sie war freiberufliche Versicherungs de tek tivin und wurde wegen ihrer guten Kontakte mit Aufträgen nur so zugedeckt. Was aber viel wichtiger war, sie war auch eine meiner besten Freundinnen. Nachdem ich die Polizei vor mittlerweile gut achtzehn Monaten verlassen hatte, war ich für eine gute Weile in ein Schnapsfass abgetaucht. Mina hatte einen massgeblichen Anteil daran gehabt , dass ich wieder herausgeklettert war. U nd auch mehr oder weniger draussen blieb. Meistens jedenfalls .
Gerade hatten wir den Abschluss eines Falles diskutiert, bei dem ich eine kleine Observation erledigt hatte, als mich Mina plötzlich breit angrinste. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Sie war berüchtigt für ihren verqueren Humor. Resigniert wartete ich ab, was da wohl kommen würde. Ich spürte einen leichten Druck hinter der Stirn und meine Zähne schmerzten ein wenig. Der Nachhall des gestrigen Abends. Ah, Whiskey, falscher Freund.
In diesem Moment klopfte es. Ohne etwas zu sagen , öffnete und schloss Mina den Mund wie ein Goldfisch. Ich grinste sie an. Sie zeigte mir den Finger.
Es klopfte erneut, und gleich darauf öffnete sich die Tür. Ein gross ge wachse ner, hagerer Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug trat herein, begleitet von einer zierlichen Frau, die ich auf Mitte dreissig bis Anfang vierzig schätzte. Sie trug einen rot-blau geblümten schwarzen Rock, eine orientalisch anmutende Bluse aus dunklem Stoff und trotz der gefühlten fünfzig Grad draussen ein Kopf tuch. Die Frau hatte ich noch nie gesehen, aber den Mann kannte ich.
« Imam Kulenović, wie geht es Ihnen? Lange nicht gesehen.»
Ich stand auf und begrüsste die beiden. Kulenovićs Händedruck war fest, so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Die Frau hingegen ignorierte meine dargebotene Hand und vermied auch jeden Blickkontakt.
«Herr van Gogh.» Mahir Kulenović sprach den lokalen Zürcher Dia lekt flies send, wenn auch mit einem deutlichen Anflug eines osteuro päi schen Akzents. Trotz dem war seine Sprachfertigkeit für mich immer wieder erstaunlich, da ich wusste, dass er erst als Erwachsener in die Schweiz gekommen war. Er war Imam der bosni schen Glaubens ge mein schaft – des Džemat – in Schlieren und eine wichtige Figur bei der Integration der bosnischen Muslime in der Schweiz. Ich hatte ihn vor drei Jahren bei Ermittlungen kennen und
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