Sophie Scholl
keineswegs eine Last. Sophie Müllers Briefgespräche sind fern von Sprachhülsen und aufgesetzten Formeln. »Ehe sich das Jahr schließt«, schreibt sie am 30. Dezember 1911, »muss ich noch ein Plauderstündchen mit der lieben Lina halten – nur noch eine kleine Zeit ist es, dann ist das alte Jahr mit Leiden und Freuden hinter uns.« Zu dieser Zeit hat der Diakonissen-Beruf Lina Müller längst fortgeführt aus dem Mutterhaus in Hall. Auf den ersten Außenstationen nach der Einsegnung 1909 arbeitete sie als Gemeindeschwester in Frankenbach, im Krankenhaus von Kirchberg an der Jagst und baute in Ulm-Söflingen eine Kinderkrippe mit auf. Im Sommer 1914, mit dreiunddreißig Jahren, ist Lina Gemeindeschwester in Merklingen bei Ludwigsburg. Sie kommt in viele Familien, meist solche, die am Rande leben. Sie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, wo die Mutter krank ist oder im Kindbett liegt. Sie pflegt Menschen, die sich keinen Arzt und keine Medizin leisten können. Lina Müller, berufstätig, aus freien Stücken unverheiratet und den Menschen dienend, hat festen Stand und ihren Platz im Leben gefunden.
Am Morgen des 4. August 1914 versammeln sich die Mitglieder des deutschen Reichstags, die Regierung und Kaiser Wilhelm II. im Berliner Dom, um aus besonderem Anlass die Sitzung mit einer Andacht zu eröffnen. Für ihre politischen Entscheidungen gibt ihnen der einundsiebzigjährige Oberhofprediger Ernst von Dryander ein Wort des Apostels Paulus mit auf den Weg: »Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?« Der protestantische Theologe ist zuversichtlich, wie dieses Wort in dieser Stunde auszulegen sei: »Wir ziehen in den Kampf für unsere Kultur gegen die Unkultur, für die deutsche Gesittung wider die Barbarei, für die freie deutsche an Gott gebundene Persönlichkeit wider die Instinkte der ungeordneten Masse … und Gott wird mit unseren gerechten Waffen sein!« Dann begeben sich die Versammelten in den Reichstag. Es beginnt die offizielle Sitzung zum Ausbruch des Krieges, der als Erster Weltkrieg, als der große Krieg, in die Geschichte eingehen wird. An diesem 4. August 1914 ist es endgültig: Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen und Russland, Frankreich und England auf der anderen Seite sehen keine Möglichkeit mehr, die politischen Spannungen zwischen den Staaten friedlich und im Kompromiss zu lösen.
Unter der Reichstagskuppel hat dann der Kaiser das Wort: »Uns treibt nicht Eroberungslust, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter. … Nach dem Beispiel unserer Väter, fest und getreu, ernst und ritterlich, demütig vor Gott und kampfesfroh vor dem Feind, so vertrauen wir der ewigen Allmacht, die unsere Abwehr stärken und zu gutem Ende lenken wolle!« Und während deutsche Soldaten in Richtung Frankreich marschieren, nachdem sie Luxemburg und Belgien überfallen haben, erklärt der Abgeordnete Hugo Hase für die Fraktion der Sozialdemokraten die geschlossene Zustimmung seiner Partei zur Kriegsfinanzierung:
»Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde und die Gegensätze zwischen den Völkern sich verschärfen, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu; wir lehnen sie ab. … Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. … Heiße Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei. … Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Siege des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. … Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.« Ob Kaiser oder Sozialdemokrat: Ihre Worte geben die Stimmung im ganzen Land wieder, quer durch alle sozialen Schichten.
Es bejubelten den Ausbruch des Krieges deutsche Universitätsprofessoren und Handwerker, Beamte und Angestellte, Künstler und Arbeiter, Bauern und Schriftsteller – alle wie von einem kollektiven Rausch ergriffen und überzeugt, das Vaterland und seine gerechte Sache gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen. Abiturklassen strömten geschlossen als Freiwillige in die Kasernen. Der angesehene fünfzigjährige Soziologe Max Weber war bitter enttäuscht, dass
Weitere Kostenlose Bücher