Sophie Scholl
Schritt kann Lina Müller nicht leicht gefallen sein. Die Gemeinschaft der Schwestern, in der Glaube und Arbeitsethos alle miteinander innig verband, war ihr Heimat geworden. »Ich habe so viel Zeit zum Denken, auch zum Grübeln, aber auch dies wird heilsam sein, Du darfst Dich nicht sorgen darum, denn ich komm mit Gottes Hilfe wieder ins Helle«, schreibt Lina Müller ihrem Verlobten in den letzten Oktobertagen, kaum dass er wieder bei seiner Arbeit im Lazarett ist.
Robert Scholl braucht sich nicht zu sorgen, denn sie hat den Trost nicht vergessen, den sie sich beide für die Trennungszeit versprochen haben, wie so viele Liebende vor und nach ihnen: »Den hellen Stern will ich fleißig betrachten und denken, dass Du zu demselben auch aufsiehst. … Heute ist wieder eine wunderbare Sternennacht.« Der Glaube, den Lina Müller von ihrer Mutter vorgelebt bekam, kennt keine Kluft zwischen Himmel und Erde, und so fasst sie am Ende zusammen: »Gott befohlen, bis wir uns wiedersehen. Sei nicht zu fleißig, geh beizeit ins Bett, gelt. Ich verbleibe in treuer Liebe Deine Lina.«
Noch von Künzelsau aus hatte Robert Scholl seinen Vorgesetzten im Lazarett brieflich über seine Verlobung informiert. Der gab am 25. Oktober im Pausenzimmer die Nachricht an Scholls Sanitäter-Kollegen und die Diakonieschwestern weiter: »Wie wenn eine Bombe eingeschlagen hätte, so sprangen alle von ihren Stühlen auf, lange und erstaunte Gesichter, auch viele Meinungsverschiedenheiten.« Ein guter Freund meldete die Reaktion postwendend nach Künzelsau und lobte den Vorgesetzten. Der habe in der allgemeinen Erregung für Robert »Stellung gefasst und gesagt, dass ihr zwei ganz gut zusammenpasst«. Und fügte als nachträgliche Erkenntnis hinzu, »daher auch immer die vielen Blumen«. Lina Müller hatte den Brief versehentlich geöffnet, schickte ihn weiter an Robert Scholl, der schon wieder an der Arbeit war, mit der Bemerkung: »Ich hoffe, die Schwestern werden sich auch bald erholt haben.«
Ins Lazarett kehrte Lina Müller nicht mehr zurück. Die Konfrontation mit ihren ehemaligen Mitschwestern musste Robert Scholl alleine aushalten: »Heute morgen zum Dienst traf ich Schwester Katharina, sie machte ein Gesicht und sagte, mit mir sei sie nicht mehr gut. Auch Schwester Liesl machte einen Trotzkopf.« Das schrieb er seiner Verlobten am 31. Oktober und konnte zugleich Positives berichten: »Als ich heute morgen kam, hatte ich einen schönen Rosenstrauch auf meinem Tisch, die Kameraden wünschten aufrichtig Glück. So fielen gar keine faulen Witze. … In Gedanken bin ich immer bei Dir, mein teures Herz. Sei umarmt und geküsst von Deinem Robert.« Dass Schwestern und Kollegen sich das Maul zerrissen über den jungen Mann Mitte zwanzig und die zehn Jahre ältere Diakonisse, wen wundert es. Dass die beiden Betroffenen es unaufgeregt zur Kenntnis nehmen und entschlossen tun, was auch hundert Jahre später noch eine Ausnahme ist, spricht für ihre innere Stärke.
Lina Müller ist überzeugt, dass sie mindestens Gleichwertiges gegen den Verlust ihres Berufes eingetauscht hat. Der Spaziergang mit einer Freundin erinnert sie kurz nach Roberts Verlobungsurlaub daran, wie sie mit ihm im Wald Bucheckern suchte: »Ich hoffte, den Baum noch zu finden, da wir beide am letzten Tag so schön und reichlich fanden, aber vergebens. … Du fehlst mir, es ist viel schöner, wenn Du dabei bist, da geht uns allemal doch am meisten das Herz auf, wenn wir so miteinander gehen.« Am 2. November 1916 sitzt Lina Müller über ihrem nächsten Brief: »Ich danke Dir für Deine große Liebe, die aus Deinen Briefen spricht und mir so wohl tut. … In Gedanken sind wir sehr viel beisammen. Behüt Dich Gott.« Die Ähnlichkeit ist verblüffend, mit der Lina Müller – wie ihre Mutter – offen und frei ihre Gefühle äußert. »Deine Liebe ist mir so viel wert«, hatte Sophie Müller ihrer Tochter im August 1909 voller Dankbarkeit geschrieben. Sie und ihr Mann scheinen die unverhoffte Lebenswende ihrer Tochter begrüßt und den jungen Schwiegersohn mit offenen Armen angenommen zu haben.
Elise Müller allerdings hatte Bedenken, ob die kleine Schwester den praktischen Anforderungen einer Familie gewachsen sei. In einem Brief an Robert Scholl wischt Lina Müller solche Einwände beiseite: »Einen Haushalt musste ich während meiner Berufszeit oft führen, mehr als einen täglich.« Einmal in Fahrt, wird dem zukünftigen Ehemann eine kleine Lektion erteilt, wie sich Lina ein
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