Sophie Scholl
zurückreichen; die etwas spüren lassen vom Vertrauen auf einen gnädigen Gott und vom nüchternen Blick auf die Welt, mit dem sie und ihre drei Geschwister aufwuchsen. Der Vater, Friedrich Müller, Schuhmacher, ein stiller Mensch und leicht kränkelnd, bleibt im Hintergrund. Es ist die Mutter, Sophie Müller – 1853 unehelich in eine Handwerkerfamilie geboren, was in der ländlichen Region zur Lebenswirklichkeit gehörte –, die in den Briefen deutliche Konturen als der prägende Mittelpunkt der Familie gewinnt. Sie begleitet die Entscheidung ihrer Tochter Lina, Diakonisse zu werden statt zu heiraten, mit herzlichem Wohlwollen. Lina Müller begann ihre Ausbildung im Diakoniewerk Schwäbisch Hall; eine Einrichtung mit Krankenhaus, Kinderkrankenhaus und »Schwachsinnigenheim«, die 1886 gegründet wurde. Vorbild war das Diakonissenhaus in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Dort hatte 1836 der evangelische Pfarrer Theodor Fliedner seine Vision einer evangelischen Gemeinschaft von Kranken- und Gemeindeschwestern realisiert. Er gehörte zu den Männern, die im frühen 19. Jahrhundert den Umbruch der Zeiten und den drängenden Wunsch von Frauen nach aktiven Lebensmodellen außerhalb der Ehe spürte. 1861 gab es in Deutschland schon 26 weitere »Häuser«, die unverheirateten jungen Mädchen und Frauen protestantischen Glaubens eine Alternative zu Ehe und Kindern boten. Sie wurden in Pflegeberufen ausgebildet, arbeiteten in Krankenhäusern und Pfarrgemeinden und fanden in der Gemeinschaft der Diakonissen familiäre Geborgenheit.
Lina Müller hat sich 1904, mit dreiundzwanzig Jahren, für den Beruf der Diakonisse entschieden. Das Diakoniewerk in Schwäbisch Hall lag nur wenige Kilometer von ihrer Heimatstadt Künzelsau entfernt. Begonnen hatte es mit sechs Diakonissen und dreißig Krankenbetten. Jetzt arbeiteten in den verschiedenen Einrichtungen hundertsechzehn Diakonissen. Der Eintritt in die Schwesterngemeinschaft war für die Töchter der Bauern, Arbeiter und kleineren Handwerker attraktiv geworden, denn er bedeutete Aufstieg und Ansehen in der Gesellschaft. Lina Müller erfüllte die praktische Vorbedingung; sie hatte nach Abschluss der Schule in einer befreundeten Familie »tüchtige Schulung in guter Küche und pünktlicher Haushaltung gelernt«. Die Eltern konnten ihr auch die Ausstattung bezahlen. Der Jahresbericht von 1903/04 trifft Lina Müllers Situation genau: »Der Diakonissenberuf fordert entschieden christliche Gesinnung, den Drang zu helfen, die Willigkeit mit andern sich zu verbinden.« Es sind »die Mädchen mit einfacher Volksschulbildung, die mit warmem Herzen zum Dienst sich gemeldet, unverdrossen gelernt, ein klares Auge, eine sichere Hand, reiche Kenntnisse und Fertigkeiten sich errungen« haben.
Die ersten sechs Monate galten im Diakoniewerk als Probezeit. Wer blieb, bekam beim Kragenfest den »kleinen« weißen durch den »breiten« Diakonissen-Kragen ersetzt. Lina Müller durchlief die Ausbildung im Behindertenbereich, bei den »Schwachsinnigen«, auf der Männer- und Frauenstation des Krankenhauses und im Operationszimmer. Sie begleitete Gemeindeschwestern zu Nachtwachen und Kinderkrippen, hatte wöchentlich fünf Stunden ärztlichen Unterricht. Fünf Jahre nach dem Eintritt und bestandener Pflege-Prüfung wurde sie im Frühjahr 1909 »eingesegnet«. Denn nun kannte sie gemäß der Ausbildungsordnung »den Diakonissendienst, seine Herrlichkeit und seine Schwierigkeiten, so dass sie aus eigenster Kenntnis in voller Freiwilligkeit sich entscheiden kann, ob sie ihn als ihren Beruf festhalten will«.
Eine Fotografie zeigt Lina Müller nach der Einsegnung in der schwarzen Diakonissentracht im Kreise ihrer Mitschwestern: sehr gerade und mit klarem freundlich-offenen Blick. Diakonisse sein heißt dienen, Opfer bringen und bei selbstloser Arbeit nicht die Stunden zählen, aber auch Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen und durchsetzen, selbstbewusst auftreten. Wie alle Diakonissen gelobte Lina Müller Armut und Ehelosigkeit. Sie lebte jedoch nicht hinter Klostermauern, sondern wirkte in der Welt und konnte jederzeit den Beruf aufkündigen, ohne einen Makel davonzutragen. Ein Drittel bis die Hälfte aller Diakonissen taten irgendwann diesen Schritt, um doch noch eine eigene Familie zu gründen.
Die erste Stelle nach der Prüfung trat die achtundzwanzigjährige Lina Müller im Kinderkrankenhaus der Diakonissen von Hall an. Im Häuschen in Künzelsau, das sich die Eltern 1905 leisten konnten, ist
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