Sophies Kurs
zuwendet, hält er etwas auf sie gerichtet, etwas Schlankes, Schwarzes. Sie denkt, es ist eine Zigarre, die er ihr anbietet. Hält man das für möglich? Sie beginnt zu lachen, doch das Lachen bleibt ihr im Hals stecken. Mit der anderen Hand hat er ihr Haar gepackt und zieht ihren Kopf mit einem Ruck zurück. Aus den Augenwinkeln sieht Molly, wie aus dem Ding in seiner Hand ein Licht hervorbricht – zu grell, um hineinzusehen. Sie hört ein leises, scharfes Brummen und atmet beißenden Ozongeruch. Sie stöhnt auf, und ihre Lippen formen Worte, die nicht kommen wollen. Sie sieht den feuchten Fleck an der Decke, dessen Form sie immer an einen wiehernden Esel erinnert. Und dann sieht sie nichts mehr.
Die Klinge seines Messers besteht aus Licht, aus kaltem, summendem Licht. Es hat einen winzigen Schnitt in ihren Nacken gebohrt und das Fleisch auf dem Weg nach innen kauterisiert, so daß nur sehr wenig Blut austritt. Während Molly Clares plumpe Hand nach der Stelle faßt, und ihre müden Augen unter dem Schock hervortreten und zum letzten Mal ein Ziel zu erfassen suchen, bemerkt der unscheinbare Mann einen Zorn, eine Wildheit in ihrem Blick ähnlich dem Blick eines Boxers, den man vorzeitig aus dem Kampf genommen hat. Als ob sie begriffen, aber nicht wirklich damit gerechnet hätte, nicht an diesem Morgen, und noch weniger durch ihn. Ihm hatte sie nicht mißtraut. Nun, da diese Augen blicklos werden und in den Höhlen einsinken, leuchtet in ihnen eine seltsame Freude auf, ein Ausdruck der Erleichterung. Der Mann hat Erfahrung im Lesen von Gesichtern, im Ausdeuten des Mienenspiels, das da kommt und geht. Aber diesen Gesichtsausdruck kann er nicht deuten. Er versucht es auch nicht, sondern läßt von der Frau ab.
Er drückt auf das Heft des Messers, und das Blatt aus Licht verschwindet. Er schiebt das Gerät in die Tasche seiner Jacke, die auf der Rückenlehne des Sessels hängt, und zieht Unterwäsche und Hemd an. Er friert ein wenig nach dieser Anstrengung, deshalb nimmt er das Herdeisen aus dem Ständer und schürt damit das kleine Feuer. Der Geruck von warmer feuchter Wolle hängt in der Luft.
Der Mann steigt in seine Hose und streift die Hosenträger über die Schultern. Dann geht er zum Fenster und öffnet es. Der Flügel ist verzogen und quietscht, als er ihn aufstößt. Regen trommelt auf die Fensterbank und spritzt in das gemütliche Zimmer. Der unscheinbare Mann lehnt sich nicht aus dem Fenster, sondern beugt sich nur etwas vor und führt eine Pfeife zum Mund. Als er hineinbläst, dringt kein Geräusch aus dem kleinen Instrument, das für menschliche Ohren hörbar Wäre. Doch im schwarzen Schlund eines Türeingangs auf der anderen Seite der Turkey-Passage regt sich ein Schatten.
Mollys Besucher steckt die Pfeife in die Tasche zurück und schließt das Fenster. Dann durchsucht er flüchtig die Schränke und Schubladen im Zimmer. Er findet nur den typisch weiblichen Flitterkram, Unterwäsche, sexuelle Hilfsmittel und Hygieneartikel. Keine Briefe oder Papiere. Er scheint nach etwas Bestimmtem zu suchen –ohne es zu finden. Er schaut sogar hinter das Waschbecken. Nichts. Jetzt nimmt er Molly Clares Hände, erst eine, dann die andere. Er betrachtet ihre Finger, die ohne jeglichen Schmuck sind. Sie war eine sehr diskrete Frau. Wäre das nicht so, hätte sie nicht so lange gelebt. Aber jetzt liegt sie auf dem Bett und starrt unbeweglich an die Decke. Seit ihre Seele davongeflogen ist, hat sich eine undefinierbare Trauer über das Zimmer gelegt. Der unscheinbare Mann mit dem Lockenkopf setzt sich neben sie und zieht sich die Strümpfe an. Von unten dringt ein gedämpftes Poltern zu ihm herauf.
Während er sich die schlammverschmierten Stiefel schnürt, betrachtet er nochmals das Bild auf dem Kaminsims. Darauf ist niemand, den er erkennt. Ohnehin wird er es sofort vernichten. Er zieht es aus dem Rahmen und zerknüllt es, ehe er es ins Feuer wirft.
Die Stufen ächzen unter schweren Schritten. Die Tür von Mollys Zimmer fliegt auf, und eine der hünenhaften Gestalten, die ihrem Besucher die Straße hinauf folgten, tritt ein. Seine Erscheinung ist ziemlich beunruhigend. Er muß sich durch die Türöffnung bücken, ist fast zu hochgewachsen für das Zimmer, und sein Kopf unter der übergroßen Schottenmütze ist geformt wie ein Hammerkopf. An beiden Enden sitzen große, kugelförmige Augen. Ohne die Wohltat eines Halses geht er gleich in den Brustkorb über. Dort ist das Hemd teilweise weggeschnitten, um Platz zu
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