SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
wieder in sich ruhenden Eltern selbst, weil die Beziehung zum Kind wieder intakt ist und die Psyche nachreifen kann. Eine medikamentöse Behandlung des Kindes steht daher nicht im Vordergrund und würde allein auch nicht die tatsächliche Störung beheben.
Die Kinder, über die ich hauptsächlich spreche, sind nicht krank. Ihre Psyche konnte sich nur nicht so entwickeln, wie es normalerweise der Fall gewesen wäre. Dieses »normalerweise« möchte ich in der Folge in groben Strichen skizzieren, damit Psyche ein wenig »sichtbarer« wird. Die Visualisierung erfolgt anhand einer auf dem Kopf stehenden Pyramide. So wird deutlich, wie sich Psyche im Laufe der Entwicklung immer stärker erweitert und damit leistungs-fähiger wird. Und es wird klar, warum Kindern und Jugendlichen erst nach und nach immer mehr »zugemutet« werden kann, je älter sie werden. Denn machen wir uns nichts vor: Die Freiheit, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung, die wir grundsätzlich als positiv empfinden, kann oft genug eine Zumutung sein. Manchmal hätten auch Erwachsene gern mehr Orientierung und Struktur. Dies gilt erst recht für Kinder, die den Schutz von Erwachsenen brauchen.
Meine Ausführungen basieren immer auf dem tiefenpsychologischen Entwicklungsmodell, das mit Sigmund Freud entstanden ist. Freud hatte die bahnbrechende Idee, dass psychische Störungen im Erwachsenenalter auf die Kindheit zurückzuführen sein könnten. Daraufhin wurden im zwanzigsten Jahrhundert Kinder über Jahrzehnte beobachtet. Man stellte fest, dass alle Kinder sich auf bestimmten Altersstufen gleich verhielten, obwohl sie über unterschiedliche Anlagen wie hohe oder niedrige Intelligenz, lebhaftes oder gemäßigtes Temperament verfügten und in unterschiedlichen Familien groß geworden waren. So gibt es auf dieser Welt, egal in welcher Kultur und unter welchen sozialen Bedingungen, keinen Säugling, der abwarten kann, also bereits eine entwickelte Frustrationstoleranz hätte.
Wenn ein Säugling Hunger hat, empfindet er das wie einen Schmerz, der Hunger tut weh. Daher schreit er. Er ist darauf angewiesen, dass der Erwachsene sich ihm unmittelbar zuwendet und ihn sättigt. Wenn die Mutter oder der Vater ihn mehrfach oder andauernd nicht rasch aus diesem unangenehmen Zustand »befreien«, dann schadet das seiner Psyche.
Aus dieser Beobachtung heraus haben bekannte Psychoanalytiker wie Freud, Adler, Jung, Erikson, Winnicott, Piaget und viele mehr Modelle entwickelt, wie sich unsere Psyche bildet. Um das auch dem Laien verständlich zu machen, habe ich, basierend auf den Erkenntnissen meiner berühmten Kollegen sowie auf meinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, ein entwicklungspsychologisches Modell entworfen, das sich auf den folgenden beiden Seiten befindet.
Grundlagen: Wahrnehmung
Wenn man die auf dem Kopf stehende und nach oben offene Pyramide betrachtet, erkennt man eines auf den ersten Blick: Sie beginnt ganz unten an ihrem schmalsten Punkt, der hier die Geburt des Kindes bezeichnet, und erweitert sich nach oben hin immer stärker, je älter das Kind und später der Jugendliche wird.
Ich habe diese offensichtliche Form der Erweiterung nicht ohne Grund gewählt. Die umgekehrte Pyramide lässt sich in Analogie setzen zur menschlichen Wahrnehmung. Und diese Wahrnehmung wiederum spielt eine ganz entscheidende Rolle für die Entwicklung der Psyche. Nach oben ist die Pyramide offen, da die psychische Entwicklung sich prinzipiell immer weiter fortsetzt.
Was ich mit der »menschlichen Wahrnehmung« meine, habe ich in früheren Büchern unter dem Stichwort »Weltbild« bereits angedeutet: Wie nimmt ein Neugeborenes seine Umwelt wahr, wie ein fünfjähriges Kindergartenkind, wie ein fünfzehnjähriger Schüler? Dass hier himmelweite Unterschiede bestehen, dürfte sofort einleuchten. Wie diese Unterschiede aussehen, will ich im Nachfolgenden erläutern.
Warum hat die Wahrnehmung etwas mit der Psyche zu tun, und warum spielt sie eine Rolle für die emotionale und soziale Kompetenz des Menschen? Wir bewegen uns ständig im sozialen Kontext, einfacher ausgedrückt: Wir gehen immer und überall mit anderen Menschen um, sogar, wenn wir gerade überhaupt niemanden direkt um uns haben. In solchen Momenten sind wir zu anderen Menschen auf Distanz gegangen, ob nun aktiv oder passiv, ob wir diese Distanz bewusst wollten oder ob sie uns einfach nur »passiert« ist.
Mit entscheidend für die Bewegung im sozialen Kontext ist die Wahrnehmung meines Umfelds.
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