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SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)

SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)

Titel: SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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Warum leben wir, wie wir leben?
    In einer deutschen Großstadt, an einem Sonntag im November 2012. Ein Siebzehnjähriger, wir wollen ihn Dennis nennen, und sein elfjähriger Bruder Nick ziehen am Wochenende los. Allerdings nicht, um Freunde zu treffen, Sport zu treiben oder sonst irgendeiner harmlosen Beschäftigung nachzugehen. Nein. Ihr Ziel ist ein Baumarkt in der Nähe ihres Elternhauses. Sie haben von zu Hause einen Seitenschneider und ein Brecheisen mitgenommen, mit denen sie sich Zutritt zum Baumarkt verschaffen können.
    Genau das machen sie auch: Die beiden Jungen versuchen, in den Baumarkt einzubrechen, um ganz gezielt eine Motorsäge zu stehlen, weil sich der Motor dieses Geräts optimal für Bastelarbeiten des Siebzehnjährigen an seinem Kart eignet.
    Es kommt, wie es kommen muss. Dennis und Nick werden auf frischer Tat ertappt, ein Anwohner ruft die Polizei, die beiden werden festgenommen und verhört. Die Eltern – es handelt sich um eine unauffällige, gut situierte Familie – sind entsetzt und ratlos. Da sie unsicher sind, wie sie mit dieser belastenden Situation umgehen sollen, landet Dennis schließlich bei mir in der Sprechstunde.
    Im Gespräch wird schnell klar, dass hier kein typisches »Problemkind« vor mir sitzt. Der Junge geht aufs Gymnasium, ist in einigen Fächern Einserschüler, die Familie ist, soweit von außen zu beurteilen, intakt. Beide Eltern kümmern sich um die schulischen Belange der Kinder und um ihr sonstiges Wohlergehen. Kurz gesagt: Alle Gründe, die sonst oft genug herhalten müssen, um solche Straftaten scheinbar zu »erklären«, fallen weg: keine Drogenproblematik, kein schwaches soziales Umfeld, kein Migrationshintergrund.
    Als ich Dennis zu den Gründen für seine Tat befrage, erklärt er mir mit nüchternen Worten, wozu er den Motor der Säge brauchte und dass er den kleinen Bruder mitgenommen habe, weil er bei seinem Vorhaben Hilfe benötigte. Er erklärt mir sogar die technischen Details des Motors und inwiefern dieser für seinen fahrbaren Untersatz von Wert ist.
    Worüber er nicht redet: den Straftatbestand des Einbruchs und dass er seinen kleinen Bruder mit in die Sache hineingezogen hat. Er zeigt keinerlei Reue, keine Problemeinsicht und keine Angst vor den Folgen.
    Dieses Verhalten lässt sich mit der fehlenden emotionalen und sozialen Entwicklung des Jungen erklären: Dennis steht auf der Stufe eines kleinen Kindes und lebt somit in der Vorstellung, er sei mehr oder weniger allein auf der Welt und könne alles und jeden steuern und bestimmen. Bei einer altersgerechten Ausprägung des emotionalen und sozialen Anteils der Psyche wäre dieser Vorfall kaum möglich gewesen.
    Dass die Entwicklung des wichtigsten Anteils unserer Psyche bei immer mehr Kindern und Jugendlichen auf der Strecke bleibt, ist neu. Überraschend wird für die meisten sein, dass diese Entwicklung unabhängig von der Frage der Erziehung stattfindet oder, wie bei Dennis zu sehen ist, eben nicht stattfindet.
    Trotz seiner siebzehn Jahre fehlt dem Jungen bei nachgewiesener bester Intelligenz und hervorragender Erziehung ein Unrechtsbewusstsein. Obwohl er also eigentlich weiß, dass man nicht stehlen darf, ist er nicht in der Lage zu verstehen, dass er eine Straftat begangen hat. Er ist überhaupt nicht fähig, die Konsequenzen, sowohl für sich als auch für seinen Bruder, einzuschätzen. Er ist auch nicht fähig, das Risiko einzuschätzen, das er einging, als er am helllichten Tag mit einer riesigen Zange an einem Zaun herumwerkelte. In seinem Bewusstsein musste er sich darüber keine Gedanken machen, da er sich, eben ganz wie ein kleines Kind, allein auf der Welt wähnte. Und wer allein ist, kann nicht gesehen werden, während er eine Straftat verübt.
    Neben dem nicht vorhandenen Verständnis für diese Zusammenhänge fehlt Dennis jegliche Empathie im Verhältnis zu seinem kleinen Bruder. Die Tatsache, dass er diesem erhebliche Schwierigkeiten gemacht, ihn zu einem Einbruch angestiftet hat, belastet ihn genauso wenig wie die Folgen, die seine Tat für ihn haben würde. Dass die polizeilichen Ermittlungen und die zu erwartende Strafe sich auf die nähere Zukunft negativ auswirken könnten, hatte er nicht im Blick.
    Für ihn ließ sich die Sache ganz logisch aus dem benötigten Motor und der dafür notwendigen Hilfe des Bruders erklären. Damit war alles gut. Punkt. Aus.
    Solche Begegnungen und die Feststellung, dass vergleichbare Fälle sich in alarmierendem Maße häufen, war 2008 einer der

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