SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Auslöser für die Publikation meines ersten Buches Warum unsere Kinder Tyrannen werden , in dem ich die Beziehungsstörungen zwischen Erwachsenen und Kindern analysiere. Seitdem hat die Welt nicht stillgestanden. Ich habe eine Menge Diskussionen geführt, es gab sehr viel Zustimmung, aber natürlich auch Widerspruch. Die beschriebenen Phänomene jedoch haben während dessen weiter an Häufigkeit zugenommen.
Ich muss also feststellen, dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt. Ich schreibe meine Bücher, weil ich mir als Kinderpsychiater große Sorgen um die Kinder und Jugendlichen der heutigen Zeit mache. Diese Sorgen sind in den vergangenen Jahren nicht geringer geworden. Im Gegenteil: Nach wie vor sind viele Kinder in ihrem Verhalten in einer Art und Weise auffällig, die es bis vor etwa fünfundzwanzig Jahren kaum gegeben hat. Die Zahl der massiven motorischen und sprachlichen Schwierigkeiten im Kindergarten und in der Grundschule steigt. Immer mehr Kinder beschäftigen immer mehr Ergotherapeuten, Logopäden oder Psychotherapeuten, denn sie haben erhebliche Schwierigkeiten im Bereich Lernen und – nicht zuletzt – im Bereich der sozialen Kompetenz. Sie konzentrieren sich in der Schule nicht, dafür aber im Freizeitpark oder vor dem Computer. Sie zeigen kein Interesse am Erlernen der grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen, strengen sich nicht an und erkennen keine Strukturen und Abläufe. Hinzu kommen ausgeprägte Rücksichtslosigkeit und Leistungsverweigerung.
Ein weiteres erschreckendes Resultat dieser Fakten ist der erhebliche Anstieg der Verschreibung von Psychopharmaka im Kinder- und Jugendbereich. Zwar sollte hier nicht jeder Einzelfall infrage gestellt werden, medikamentöse Behandlungsmethoden sind bisweilen notwendig. Trotzdem bedeuten die steigenden Verordnungszahlen ein Signal in die falsche Richtung. So manches Medikament könnte eingespart werden, wenn man nicht vorrangig das Symptom, wie etwa fehlende Konzentration in der Schule, sehen würde, sondern die Ursache. Da diese häufig darin liegt, dass sich die Psyche des Kindes nicht entwickeln konnte, sind die daraus entstehenden Probleme nicht wirklich durch die Einnahme von Tabletten zu lösen. Das Fatale an der medikamentösen Behandlung ist indes: Nach außen erscheinen viele dieser Kinder nach Jahren mit enormen Auffälligkeiten im Verhalten oft als »geheilt«, weil es durch die Psychopharmaka zumindest zu einer zeitweiligen Unterdrückung der groben Symptome kommt. Das führt zu Aussagen wie jener einer Grundschullehrerin in der Zeugniskonferenz einer zweiten Klasse: »Seit Harald diese Medikamente nimmt, ist er im Unterricht bedeutend ruhiger geworden und arbeitet besser mit. Das ist wirklich eine gute Sache!«
Im Hinblick auf die Ruhe im Unterrichtsraum mag das im ersten Moment stimmen. Für das betroffene Kind und seine weitere Entwicklung ist diese Sichtweise fatal, handelt es sich dabei doch immer häufiger um eine massive Selbsttäuschung. Hintergrund der Unruhe vieler Kinder in der Schule ist eben nicht eine hirnorganische Störung, sondern eine Entwicklungsstörung im Bereich der Psyche. So mag das Symptom der Unruhe und Konzentrationsschwäche erfolgreich behoben sein, nicht aber die Ursache.
Wer wissen will, was das Ergebnis solch einer Selbsttäuschung ist, muss nur mit Menschen sprechen, die in der Wirtschaft mit Mitarbeitern zu tun haben. Das sind etwa mittelständische Unternehmer, die guten Nachwuchs in komplexer werdenden Märkten brauchen, oder Personalchefs. Sie führen täglich Vorstellungsgespräche, die bisweilen an Absurdität kaum zu überbieten sind. Da tragen Bewerber noch das Ausgeh-Outfit vom Wochenende, kommen ohne Grund eine halbe Stunde zu spät oder wissen erkennbar nichts über die Stelle und die Firma, um die es in der Bewerbung geht. In Persönlichkeiten statt Tyrannen habe ich diese Entwicklung eingehend beschrieben.
Hier, an der Schnittstelle zwischen Schulkarriere und Arbeitsleben, wird die Misere am deutlichsten. Firmen klagen in zunehmendem Maße über nicht ausbildungsfähige Jugendliche, ganze Branchen suchen händeringend qualifizierten Nachwuchs. Es fehlen nicht nur Grundkenntnisse in Deutsch oder Mathematik, sondern vor allem auch sogenannte »soft skills« wie Arbeitshaltung, Umgangsformen, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen und Abläufen oder auch Frustrationstoleranz. Immer weniger junge Berufseinsteiger arbeiten ohne Murren, auch wenn es mal keinen Spaß
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