Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Ausbeutersystems bedingt.
Wer innerhalb 14 Tagen, also bis zur Ausfertigung eines neuen Zertifikats, seine Coupons nicht vollständig verbraucht hat, erhält aus dem nächsten Zertifikat den unverbrauchten Teil gut geschrieben. Aber freilich muss auch hier Vorkehrung getroffen werden, dass sich nicht solche Restbeträge bis zu wirklichen Kapitalien anhäufen können. Ein Betrag von sechzig Mark gilt mehr als ausreichend, um es dem einzelnen zu ermöglichen, sich auch größere Kleidungsstücke aus den Ersparnissen der Zertifikate anzuschaffen. Was über diesen Ertrag hinaus erspart wird, verfällt daher der Staatskasse.
11. Die neue Häuslichkeit
Die große Wohnungslotterie hat stattgefunden und die nette Wohnung ist von uns bezogen worden. Freilich verbessert haben wir uns nicht gerade. Wir wohnten Berlin SW, drei Treppen im Vorderhause und haben — zufällig in demselben Hause — eine Wohnung angewiesen erhalten drei Treppen im Hinterhause. Meine Frau ist ein bisschen stark enttäuscht. Sie hatte zwar den Gedanken an eine kleine Villa aufgegeben, aber wohl noch immer auf eine halbe Belletage irgendwo gehofft.
Auf die Wohnung habe auch ich immer viel gegeben. Wir hatten bisher für uns 6 Personen 2 Stuben, 2 Kammern und die Küche. Die beiden Kammern, in denen Großvater und die Kinder schliefen, brauchen wir allerdings jetzt nicht mehr. Der Küche bei den Wohnungen bedarf es auch nicht weiter, da morgen die Staatsküchen eröffnet werden sollen. Aber auf 2 bis 3 hübsche Stuben hatte ich mir im Stillen selbst Hoffnung gemacht. Stattdessen haben wir eine einfenstrige Stube und eine Art Mädchengelass, wie man es früher nannte, zugeteilt bekommen. Etwas dunkler und etwas niedriger sind die Räume, auch Nebenräume sind nicht dabei.
Indes Alles ist mit rechten Dingen zugegangen. Unser Magistrat ist ehrlich, und nur ein Schelm gibt mehr, als er hat. Wie gestern in der Stadtverordnetenversammlung dargelegt wurde, hat Berlin bisher laut dem früheren Mietssteuerkataster für seine 2 Millionen Einwohner eine Million Wohnzimmer zur Verfügung gehabt. Nun ist aber der Bedarf an Räumen für öffentliche Zwecke in unserer sozialisierten Gesellschaft außerordentlich gewachsen. Die zu öffentlichen Zwecken schon vorhanden gewesenen Räume einschließlich der Ladenlokale vermochten deshalb nur einen winzigen Bruchteil des jetzigen Bedarfs zu decken. War doch schon eine Million junger und alter Personen in Erziehungs- und Verpflegungsanstalten unterzubringen. Krankenhäuser mit 80. 000 Letten sind jetzt reserviert.
Solche öffentliche Zwecke müssen aber den Privatinteressen vorangehen. Mit großem Recht hat man deshalb vorzugsweise die größeren und besseren Häuser, namentlich in den westlichen Stadtteilen, dafür in Beschlag genommen. In den inneren Bezirken liegen desto mehr Bureaus und Verkaufsmagazine. In den Erdgeschossen sind überall die Staatsküchen und Speisehäuser für diejenige Million Einwohner eingerichtet, welche nicht in öffentlichen Anstalten untergebracht ist In den Hinterhäusern befinden sich auch Generalwaschanstalten für dieselben. Wenn dergestalt für so viele besondere Zwecke auch besondere Räumlichkeiten reserviert werden mussten, so ergab sich daraus von vornherein eine Beschränkung der Privatwohnungen.
Bei Übernahme der Regierung sind wie gesagt im Ganzen eine Million verfügbarer Wohnzimmer vorgefunden worden. Es sind davon nach Deckung des Bedarfs für öffentliche Zwecke 600. 000 mehr oder weniger kleine Wohnzimmer übrig geblieben nebst einigen hunderttausend Küchenräumen und andern Nebenräumen. Für die in Privatwohnungen unterzubringende Million Einwohner entfiel daher pro Kopf eine Räumlichkeit. Um jede Ungerechtigkeit zu verhindern, sind diese Räume verlost worden. Jede Person von 21 bis 45 Jahren, männlich oder weiblich, erhielt ein Los. Das Verlosen ist überhaupt ein vorzügliches Mittel, um dem Prinzip der Gleichheit bei ungleichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Die Sozialdemokraten in Berlin hatten schon in der früheren Gesellschaft solche Verlosungen eingeführt bei Theaterplätzen.
Nach der Verlosung der Wohnungen war Umtausch der zugelosten Räume gestattet. Diejenigen, welche beisammen bleiben wollten wie Eheleute, aber nach Straßen, Häusern oder Stockwerken getrennte Räume zugelost erhalten hatten, tauschten mit anderen. Ich konnte freilich neben der für meine Frau ausgelosten Stube nur noch das Mädchengelass bekommen, indem ich dafür die für
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