Sozialdemokratische Zukunftsbilder
liegen. Nach dem Eintritt in den Speisesaal lässt man sich die Speisemarke aus dem Geldzertifikat durch den Buchhalter loslösen und erhält dafür eine Nummer, welche die Reihenfolge bezeichnet. Sobald durch Freiwerden von Plätzen an den Tischen die Nummer an die Reihe kommt, holt man sich seine Portion am Anrichtetisch. Schutzmänner wachen streng über die Ordnung. Diese Schutzmänner — ihre Zahl ist jetzt- in Berlin auf 12. 000 vermehrt worden — machten sich allerdings in den Küchen heute ein wenig unangenehm mausig. Das Gedränge in dem Speiseraum war freilich etwas groß. Berlin erweist sich zu eng für die großartigen Einrichtungen der Sozialdemokratie.
Es wurde natürlich bunte Reihe gemacht. Jeder nimmt Platz, wie er gerade von der Arbeit kommt. Neben einem Müller saß mir gegenüber ein Schornsteinfeger. Darüber lachte der Schornsteinfeger herzlicher als der Müller. Die Tischplätze sind etwas schmal, sodass die Ellenbogen gegenseitig behinderten. Indes dauert das Essen ja nicht lange, die Esszeit ist sogar zu knapp bemessen. Nach Ablauf der zugemessenen Minuten, über deren Innehaltung an jeder Tischreihe ein Schutzmann mit der Uhr in der Hand wacht, muss der Platz unweigerlich dem Hintermann eingeräumt werden.
Es ist doch ein erhebendes Bewusstsein, dass in allen Staatsküchen Berlins an demselben Tage überall dasselbe gekocht wird. Da jede Küche genau weiß, auf wie viel Personen sie sich einzurichten hat und diesen Personen jede Verlegenheit erspart ist, aus einer langen Speisekarte erst eine Auswahl zu treffen, so sind alle Verluste vermieden, welche durch übriggebliebene Speisen in den Restaurants der Bourgeoisie früher die Konsumtion so sehr verteuert haben. Diese Ersparnis gehört mit zu den größten Triumphen der sozialdemokratischen Organisation.
Ursprünglich wollte man, wie unsere Nachbarin, die Kochfrau, erzählte, in jeder Küche verschiedene Speisen derart zur Auswahl stellen, dass nach dem Allewerden des einen Gerichts sich die Auswahl für die später Kommenden fortgesetzt verringerte. Indes überzeugte man sich bald, dass dies ein Unrecht gewesen wäre, für Diejenigen, welche in Folge ihrer in andere Tagesstunden fallenden Arbeitszeit erst später das Speisehaus hätten aussuchen können.
Alle Portionen sind für jedermann gleich groß. Ein Nimmersatt, welcher heute unter Verletzung des sozialdemokratischen Gleichheitsprinzips noch eine Zulage verlangte, wurde herzlich ausgelacht. Auch der Gedanke, den Frauen kleinere Portionen zuzumessen, ist als der Gleichberechtigung beider Geschlechter und ihrer gleichen Arbeitspflicht widersprechend von vornherein zurückgewiesen worden. Freilich müssen auch die Männer von schwerem Körpergewicht mit derselben Portion fürlieb nehmen. Aber für diejenigen darunter, welche sich in ihrem früheren Wohlleben als Bourgeois gemästet haben, ist das Zusammenziehen des Schmachtriemens ganz gesund. Solchen Personen dagegen, welche durch sitzende Lebensweise und durch Naturanlage eine stärkere Leibesfülle gewonnen haben, ist bei dem achtstündigen Maximalarbeitstag freie Zeit gewährleistet, sich anderweitig zu trainieren. Auch kann sich ja jeder von Hause so viel von seiner Brotportion als Zukost zur Mahlzeit mitbringen, wie er immer essen mag. Überdies ist es denjenigen, welchen ihre Portion zu groß ist, freigestellt, ihren Tischgenossen einen Teil davon abzugeben.
Wie unsere Nachbarin erzählte, hat das Ministerium für Volksernährung dem Küchenzettel die wissenschaftlichen Erfahrungen darüber zu Grunde gelegt, wie viel Gramm dem Körper, um ihn in seinem stofflichen Zustand zu erhalten, an stickstoffhaltigen Nährstoffen (Eiweiß) und stickstofffreien Nährstoffen (Fett und Kohlhydrate) zuzuführen sind. Es gibt täglich für jedermann Fleisch (durchschnittlich 150 Gramm pro Portion) und daneben entweder Reis, Graupen oder Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen. Linsen), fast immer mit reichlichen Kartoffeln. Donnerstag wird Sauerkohl mit Erbsen verabreicht Was in Berlin an jedem Tage gekocht wird, ist an den Anschlagsäulen zu lesen. Dieselben veröffentlichen den Küchenzettel schon für die ganze Woche, genauso wie früher den Theaterzettel.
Wo hat es je in der Welt ein Volk gegeben, in welchem wie jetzt bei uns jedermann täglich seine Fleischportion gesichert ist? Selbst ein französischer König konnte als höchstes Ideal sich nur vorstellen, dass am Sonntag jeder Bauer sein Huhn im Topfe haben sollte. Dabei muss man sich
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