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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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noch gegenwärtig halten, dass neben der gleichen Grundlage, welche für die Ernährung von Staatswesen gelegt wird, dem persönlichen Belieben eines Jeden überlassen bleibt, bei den Nebenmahlzeiten sich morgens und abends alles dasjenige zu gönnen, was sein Gaumen verlangt, natürlich immer in den Grenzen des Geldzertifikats.
    Keine Brotlosigkeit, keine Obdachlosigkeit mehr! Für jedermann an jedem Tage Fleisch im Topfe! Schon dieses Ziel erreicht zu haben, ist ein so erhabener Gedanke, dass man darüber manche Unbequemlichkeiten, die allerdings der neue Zustand mit sich bringt, vergessen muss. Freilich, die Fleischportion könnte noch etwas größer sein. Aber unsere vorsichtige Regierung wollte zu Anfang nicht mehr verabreichen, als bisher in Berlin mittags durchschnittlich verzehrt wurde. Später soll ja Alles bei uns viel reichhaltiger und großartiger werden, je mehr die neuen Einrichtungen sich vervollkommnen und die Übergangsverhältnisse überwunden werden.
    Eines nur raubt dem Flügelschlag meiner Seele den höheren Schwung: die Bekümmernis meiner guten Frau. Sie ist recht nervös geworden und wird es täglich immer mehr. Während unserer 25 jährigen Ehe haben wir nicht so viel erregte Auseinandersetzungen gehabt, wie seit der Begründung der neuen Ordnung. Die Staatsküchen behagen ihr auch nicht. Das Essen, meint sie, sei Kasernenkost und keine Hausmannskost. Das Fleisch sei zu ausgekocht, die Brühe zu wässerig u. s. w. Wenn sie schon acht Tage im Voraus wisse, was sie jeden Tag essen müsse, verliere sie schon davon den Appetit, und dabei hat sie doch früher mir so oft vorgeklagt, sie wisse bei den teuren Preisen gar nicht mehr, was sie kochen solle. Es passte ihr früher stets, wenn einmal sonntags nicht gekocht zu werden brauchte, weil wir einen kleinen Ausflug unternahmen. Nun, Frauen haben immer an Speisen etwas auszusetzen, die sie nicht selbst gekocht haben.
    Ich hoffe, dass, wenn sie erst einmal die Kinder und den Vater in der Anstalt besucht und wohl und munter gefunden hat, auch der Gleichmut ihrer Seele wieder zurückkehren wird, der sie früher selbst in den schwierigsten Zeiten unserer Ehe niemals verlassen hat.

13. Ein ärgerlicher Zwischenfall
    Unser Reichskanzler ist nicht mehr so beliebt wie früher. Ich bedaure dies umso aufrichtiger, als es einen tüchtigeren, energischeren und tätigeren Staatsleiter, einen zielbewussteren Sozialdemokraten nicht geben kann. Aber freilich, jeder ist nicht so verständig wie ich. Wem irgendetwas in der neuen Ordnung nicht passt, wer sich in seinen Erwartungen getäuscht fühlt, schiebt die Schuld auf unseren Reichskanzler. Ganz besonders falsch auf den Reichskanzler sind viele Frauen seit dem großen Umzug und der Einrichtung der Staatsküchen. Es soll unter den Frauen sogar eine Reaktionspartei in der Bildung begriffen sein. Meine Frau ist selbstverständlich nicht darunter, ich hoffe, Agnes auch nicht.
    Geflissentlich hat man auch gegen den Reichskanzler verbreitet er sei ein Aristokrat. Er putze sich seine Stiefel nicht selber und lasse sich seine Kleider durch einen Diener reinigen, der ihm auch das Essen aus der Staatsküche, auf die er angewiesen ist, in das Schloss bringen muss. Das wären freilich arge Verstöße gegen das Gleichheitsprinzip aber es fragt sich doch, ob es wahr ist.
    Genug, diese Unzufriedenheit, welche offenbar von der Partei der Jungen genüssentlich genährt wird, ist öffentlich in einer sehr hässlichen und tadelnswerten Weise zum Ausdruck gelangt. Auf dem Platz der ehemaligen Schlossfreiheit war das neue allegorische Denkmal zur Verherrlichung der Großtaten der Pariser Kommune im Jahre 1871 gestern enthüllt worden. Seitdem ist der Platz unausgesetzt von vielen Neugierigen bedeckt, welche sich dieses großartige Denkmal ansehen. So war es auch, als der Reichskanzler zu Wagen, von einer Spazierfahrt im Tiergarten zurückkehrend, über die Schlossbrücke kam, um im Hauptportal an der Schlossfreiheit einzufahren. Schon von der Gegend des Zeughauses her hörte man Pfeifen, Lärm und Toben. Wahrscheinlich hatte die berittene Schutzmannschaft, welche jetzt auch wieder hergestellt ist, sich wieder einmal allzu diensteifrig gezeigt, dem Wagen des Reichskanzlers Platz zu machen. Der Tumult wuchs, als der Wagen näher kam. Rufe erschollen: Nieder mit dem Aristokraten, dem Bourgeois, dem Protzen! Heraus aus dem Wagen, in den Kanal mit der Equipage! Offenbar fühlte sich die Menge aufgereizt durch den jetzt seltener gewordenen
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