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Späte Heimkehr

Späte Heimkehr

Titel: Späte Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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hätte er erfahren, was der kleine Junge gerade sagte. Wurde er wohl je wieder gesund? Aber auf die Antwort würde er warten müssen, bis er selbst lesen gelernt hatte und die zwischen den Buchdeckeln verborgenen Schätze bergen konnte.
    Schuldbewusst blickte er auf, und als hätte er die Strafe heraufbeschworen, wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen.
    »Hab ich dich erwischt! Du ungezogener Bursche!«, dröhnte eine wütende Stimme. Im Türrahmen stand eine bedrohlich aufragende Gestalt, und der Junge sprang eilig auf die Füße, wobei er gleichzeitig versuchte, die Bücher hinter seinem Rücken zu verstecken.
    Ein hoch gewachsener Mann stürzte auf ihn zu und packte ihn am Kragen. »Du weißt ganz genau, dass du hier nichts zu suchen hast. Das sind wertvolle Bücher. Du hast hier nichts anzufassen.« Die Stimme des Mannes wurde noch lauter. »Mrs. Anderson«, rief er. »Mrs. Anderson!«
    Er stieß das Kind auf die Tür zu. Im Korridor vernahm man jetzt Schritte, die eilig näher kamen, und eine besorgte Stimme. »Ich komme schon, Sir.«
    Die Haushälterin hastete ins Zimmer, sie wirkte aufgeregt. Einzelne mit Grau durchsetzte Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst, auf ihrem runden, rosa angelaufenen Gesicht glänzten Schweißperlen, und sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ach, Richie, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«, fragte sie tadelnd.
    Phillip Holten hielt den Jungen am Kragen gepackt wie einen streunenden Welpen. Er schob ihn ihr entgegen. »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Er darf erst wieder herunter, wenn ich es sage.« Dann drehte er den mit gesenktem Kopf vor ihm stehenden Jungen zu sich hin und starrte ärgerlich auf ihn nieder. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, Richard.«
    Zögernd hob der Junge, um dessen Mundwinkel es bereits verdächtig zuckte, das Kinn und sah aus blauen Augen eingeschüchtert zu ihm auf.
    Der Mann senkte die Stimme und sprach langsam und deutlich. »Ich verbiete dir, diese Bücher anzufassen oder dieses Zimmer zu betreten. Hast du mich verstanden?«
    Der Junge nickte.
    »Antworte bitte, wenn ich mit dir spreche.«
    »Ja, Sir«, sagte der Kleine mit bebender Stimme. »Ich wollte mir nur die Bücher mit den Bildern …«
    »Das reicht. Du lernst lesen, wenn ich es dir sage, und dann wirst du Bücher lesen, die für Kinder geeignet sind. Du bekommst eine Hauslehrerin, die dich auf eine gute Schule vorbereiten wird. Bis dahin tust du, was dir gesagt wird. Verstanden?«
    »Ja, Sir«, kam es unterwürfig zurück.
    »Und jetzt entschuldige dich, mein Herzchen«, erinnerte ihn Mrs. Anderson, nahm dabei seine Hand und drückte sie liebevoll.
    »Es tut mir Leid, Sir.«
    »Ab nach oben. Sorgen Sie dafür, dass das Zimmer wieder in Ordnung gebracht wird, Mrs. Anderson.«
    »Ja, Mr. Holten. Ich bringe ihn nur vorher noch auf sein Zimmer.«
    Sie führte den Jungen an der Hand nach oben. Als sie hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen wurde, bückte sie sich und hob ihn hoch. »Warum bist du denn auch da hineingegangen, mein Spätzchen? Du weißt doch, dass du das nicht darfst. Du hast so viele Spielsachen und schöne Bücher im Kinderzimmer. Du kletterst wohl gern die Trittleiter hoch? Ich weiß ja, dass du dir nichts Böses dabei gedacht hast, aber der Spaß ist es doch nicht wert, dass er jetzt zornig und wütend auf dich ist.«
    Der Junge schmiegte sein Gesicht an ihre warme Schulter. »Denk nicht mehr daran, Spätzchen. Ich bringe dir ein leckeres Abendessen aufs Zimmer, und wenn du brav bist, bekommst du vielleicht noch eine Überraschung.«
    An der Tür zum Kinderzimmer setzte sie ihn keuchend wieder ab.
    Zurück in der Bibliothek, zog Mrs. Anderson die Vorhänge wieder vor, stellte die Trittleiter an ihren Platz zurück und hob die Bücher auf. Sie blätterte ein wenig darin herum und fragte sich dabei, warum der Junge ausgerechnet diese ausgesucht hatte. Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie die Bilder betrachtete. »Armer kleiner Spatz«, seufzte sie. »So ein Leben hätte er bestimmt selbst gern. Das wäre für uns alle schöner …« Sie schob die Bücher wieder ins Regal und ging das Abendessen vorbereiten.
     
    Weit davon entfernt, sein einsames Mahl als Strafe zu empfinden, genoss es Richie sogar. Auf dem Tablett, das ihm Mrs. Anderson auf den niedrigen Tisch gestellt hatte, fand sich unter einem gestrickten Eierwärmer ein weich gekochtes Ei und daneben eine in schmale Streifen geschnittene

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