Späte Heimkehr
Abenteuergeschichten für Jungen geschenkt. Phillip Holten hatte sich zwar bedankt, ihr jedoch gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass er es vorzöge, wenn Richie wertvolleren Lesestoff bekäme, und hinzugefügt: »Sie müssen dem Jungen nichts zu Weihnachten schenken. Er hat ohnehin schon genug.«
»Bald ist Weihnachten«, überlegte Mrs. Anderson laut und dachte an die Bücher, die sich Richie in der Bibliothek angesehen hatte. »Und dann ist schon wieder ein neues Jahr – 1959. Ich frage mich, was es uns wohl bringen wird. Du wirst dann zum Beispiel schon zur Schule gehen.«
Aber Richies Blick war traurig. »Warum gibt es bei uns eigentlich kein Weihnachtsfest wie bei den Leuten in den Büchern?«, wollte er wissen, denn in seinem Zuhause wurde Weihnachten nicht gefeiert.
Am Weihnachtsmorgen begleitete Richie Phillip Holten zur Kirche, wo er dem Gottesdienst zwar keine besonders große Aufmerksamkeit schenkte, sich aber trotzdem brav und still verhielt. Das Singen gefiel ihm, aber mehr noch faszinierte ihn die festlich dekorierte Kirche mit den bändergeschmückten Kränzen am Eingang, dem Lametta, dem Blumenschmuck und den brennenden Kerzen im Innenraum. An diesem Tag war es anders als bei der üblichen Sonntagsmesse, die Kirche war brechend voll mit gut gelaunten Menschen, die ihre besten Kleider trugen. Alle wünschten sich gegenseitig »Fröhliche Weihnachten«, und die Augen der anderen Kinder strahlten vor Aufregung.
Während des Gottesdiensts in der einfachen presbyterianischen Kirche stand Phillip Holten immer feierlich in der ersten Reihe, und wenn er sich anschließend von den verschiedenen Gemeindemitgliedern mit einem Nicken und vom Pfarrer mit Handschlag verabschiedete, blieb Richie dicht neben ihm.
Beim anschließenden Mittagessen servierte ihnen Mrs. Anderson zum Nachtisch ihren Plumpudding – weitere Zugeständnisse an den Festtag gab es nicht.
Einmal hatte sie angedeutet, der Junge würde sich sicherlich über einen Weihnachtsbaum und ein paar »kleine Geschenke« freuen.
»Vielen Dank, Mrs. Anderson, aber die Erziehung des Kindes können Sie getrost mir überlassen. Abgesehen davon ist er noch zu klein, um für den unsinnigen Flitter, von dem einige Leute nicht lassen können, einen Sinn zu haben … wie man sein hart erarbeitetes Geld nur so verschleudern kann.«
Mrs. Anderson hatte darauf wohlweislich nichts erwidert, sich aber bei ihrem Mann verärgert über Mr. Holtens gnadenlose Sparsamkeit ausgelassen und den Jungen wegen seiner freudlosen Kindheit bedauert.
Jim Anderson klopfte den Kopf seiner Pfeife gegen die Ofenklappe und leerte den Bodensatz dann in den Aschekasten unter dem Herd. »Tja, Rene, vielleicht ist er ja wirklich ein schäbiger Geizkragen, aber du darfst dich nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Wenn er es so für gut befindet, dann wird es eben so gemacht. Außerdem kannst du dem Mann kaum zum Vorwurf machen, dass er an Weihnachten nicht gerade fröhlich gestimmt ist.«
Richie spürte instinktiv, dass ihm etwas entging. Irgendwo da draußen musste es noch eine andere Welt geben, und er hätte nur zu gern gewusst, wie man dort hinkam. Er sah zu, wie Mrs. Anderson das Buch weglegte. »Was haben Sie an Weihnachten gemacht, als Sie so klein waren wie ich?«, wollte er wissen.
Ohne weiter darüber nachzudenken, begann Mrs. Anderson von ihren Geschwistern zu erzählen, was für lustige Spiele sie immer gespielt hatten und wie schön es gewesen war, am Weihnachtsmorgen aufzuwachen und die mit Süßigkeiten und Spielzeug gefüllten Strümpfe zu finden. Als sie allerdings Richies traurigen Blick sah und die Sehnsucht in seinem Herzen spürte, biss sie sich auf die Zunge und fügte ohne viel Überzeugungskraft hinzu: »Unser Leben bestand natürlich nicht nur aus Spiel und Spaß. Die Zeiten waren schwer, und Geld war knapp. Wir lebten von der Hand in den Mund. Du hast es da schon viel besser, dass du in einem so herrschaftlichen Haus aufwachsen kannst. Und später wirst du auf die besten Schulen gehen und ein kluger Mann werden, und dann kannst du alle Bücher auf der ganzen Welt lesen. Vielleicht schreibst du dann ja sogar selbst eines!« Aber ihre Worte hatten einen hohlen Klang, und Richie schien nicht ganz überzeugt davon, dass er es besser hatte.
Mrs. Anderson deckte ihn zärtlich zu und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange.
In der Stille unter den kühlen, weißen Laken legte der kleine Junge die Arme um sein Kissen und drückte es fest an
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