Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
feiern, rauchen, Schreibmaschinengeklappere in der Nacht, fünfzig Cabinet am Tag, Du brauchst dich über dein Lungenemphysem nicht zu beklagen, Konrad! Una Mousse au chocolat per favore, ruft sie, con due cucchiai, mit zwei Löffeln!
Lebt die Marussja eigentlich noch?, fragt Konrad. Marussja – ein Name aus alten Zeiten, Marussja, die dicke Malerin, der erste Besuch in der ersten Wohnung. Sie hatten alles vorbereitet, Kerzen, Blumen, einen großen Teller mit ungarischer Salami und eingelegten Pilzen, da war Konrad eingefallen: Die Dicke! Die kommt doch nie durch bis ins Zimmer! Im Korridor war ein Engpass, der Kleiderschrank, da würde die steckenbleiben, was dann? Rasch hatten sie alles wieder nach vorn getragen, gerade noch rechtzeitig. Und dann saßen sie zu dritt bei Kerzenlicht auf der Küchenbank,weil es in der Küche »doch am gemütlichsten« sei. Wenn sie noch lebt, sagte Sylvie, laden wir sie ein. In die Balkonsessel passt sie, und die Balkontür ist zweiflüglig.
Vom Hinterhof auf die Sonnenseite mit Balkon – der erste Balkon in ihrem Leben mit schmiedeeisernem Gitter, mit Gutsverwalterblick über die ganze Gegend, und über ihnen der Himmel. Sie spielen Balkonbesitzer. Sie frühstücken auf dem Balkon, sie trinken Tee auf dem Balkon, sie streiten sich auf dem Balkon, sie essen Spaghetti auf dem Balkon; auch wenn es regnet, man hat einen Sonnenschirm. Nach dem Regen hängen die Tropfen wie Tränen zum Trocknen am schwarzen Jugendstildekor. In der ersten Nacht in der neuen Wohnung hatte Sylvie immer wieder den Schatten betrachtet, den das bauchige Gitter durch die offene Tür auf die Zimmerwand warf, der Schatten zeichnete den Scherenschnitt einer Sehnsucht, der Sehnsucht nach einem Balkon, nach einem Leben, aus dem man sich hinauslehnen konnte.
Es gibt Tage, da senden die Wörter Todesbotschaften, da liest Sylvie anstatt Moratorium Krematorium, anstatt Leine Leiche und Tod anstatt Not. Ein Witz: Der Patient aus Nummer neun beschwert sich bei der Krankenschwester über seinen Mitpatienten. Können Sie den nicht rausnehmen hier, der röchelt schrecklich, das ist ja nicht auszuhalten. Der hat es bald hinter sich, der stirbt, sagt die Schwester. Ja, haben Sie denn kein Sterbezimmer?, fragt der Patient. Das hier ist das Sterbezimmer, sagt die Schwester und geht. Der Gedanke an den Tod fliegt Sylvie zuweilen an wie eine Stubenfliege, die sich nicht verscheuchen lässt.
Wie lange leben Fruchtfliegen eigentlich?
Goldene Hochzeit feiern die jedenfalls nicht.
Silencio, da drüben sitzen zwei Deutsche, die müssen nicht alles hören.
Wieso, wir sprechen hier von verheirateten Fruchtfliegen.
Ich wollte dich gar nicht heiraten, Fruchtfliege, sagt Sylvie.
Das ist der Beginn eines Dialogs, der zum Running Gag zwischen ihnen geworden ist:
Ich wollte dich gar nicht heiraten, du warst mir zu alt, schon siebenundzwanzig.
Nichttänzer war ich auch noch.
Und nach einem halben Jahr bist du erstmal für zwei Jahre weggegangen.
Willst du mich immer noch heiraten, hast du gefragt, als du mich in Dresden angerufen hast. Du mich!
Damit du eine Arbeiterrückfahrkarte kriegtest, musste ich Frau Ludens werden.
Und der Arbeiter fährt zurück, Rückfahrt in sein Lebensglück!
In Liebe und Treue! mahnte die Standesbeamtin. Bei Liebe hat sie mich angesehen, bei Treue dich.
Weil ich schon mal geschieden war.
Die arme Peyrette. Hättest du mich eigentlich ihr Tagebuch lesen lassen, wenn es nach ihrem Tod bei dir und nicht bei mir gelandet wäre?
Warum fragst du?
Weil ich dich wahrscheinlich nicht geheiratet hätte, wenn ich Peyrettes Tagebuch früher gelesen hätte.
Den möchte ich sehen, den du hättest, wenn nicht mich.
Jedenfalls hätte er Muskeln gehabt und schwarze Haare, eine Art Marlon Brando.
Heute wäre er fett und hätte eine Glatze.
Sylvies Männertyp war das Gegenteil von Konrad. Dein Ghandi kommt, hatten ihre Mitschüler gerufen, wenn Konrad sie von der Schule abholte. Ihr könnt zusammen die Fliege machen, hatten sie gerufen, denn auch Sylvie war dünn. Ein hauchdünnes Paar, ein Fruchtfliegenpaar.
Wenn ich zu euch kam, hat deine Großmutter jedesmal ihren schwarzen Rollkragenpullover angezogen.
Du warst ihr Typ.
Ich war von vielen der Typ.
Alles Großmütter inzwischen – Sylvie zieht ihre blaue Jacke über, kühler Wind weht durch die offene Tür.
Gold schafft nicht jeder in seinem Leben, dafür muss man wetterfest sein. Vor vielen Jahren in Hamburg war sie mit einer merkwürdigen Situation
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