Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
sieh mal, die Leute da mit den Koffern, denen laufen wir nach, die sind extra angereist, um in dieser Trattoria zu essen, der Geheimtipp scheint sich rumgesprochen zu haben.
Endlich, auf einem großen Grundstück mit alten Bäumen die Trattoria alle Vignole! Da steht, schön im Schatten, ein einzelner Tisch für zwei. Sie lassen sich erschöpft in die Korbsessel fallen und warten auf die Bedienung. Ist doch wunderbar hier, sagt Sylvie, guckmal, alles Einheimische, wir sind die einzigen Touristen. War eine gute Idee, lobt Konrad, hier bleiben wir, erstmal was trinken. Unser letzter Tag in Venedig, sagt Sylvia, die Goldene Hochzeit ist nun schon Vergangenheit, dabei war sie erst vor drei Tagen. Wo Venedig ist, ist Goldene Hochzeit, erwidert Konrad. Sylvie zaubert aus ihrer Handtasche kein weißes Kaninchen, aber einen weißen Leinenbeutel, den das Bild eines kleinen Jungen schmückt – für dich! Konrad als Dreijähriger in Hut und Mantel, weißer Kragen, früher Erobererblick, sie hat das Bild immer bei sich, in der Brieftasche. In einem Laden am Campo Margarita hat sie es auf den Beutel drucken lassen, ein Souvenir für Diener Franke, da kann er mit sich selber Brötchen holen gehen, der alte Mann mit dem kleinen Jungen. Mensch, war ich mal hübsch!, sagt Konrad.
In diesem Moment tritt die Bedienung an den Tisch, eine groß gewachsene Signora in festlichem Kleid, das von grauen Strähnen durchzogene schwarze Haar ist aufwendig hochgesteckt. Sie fragt nach dem Namen des ausländischen Ehepaars, come si chiama? Cognome? Ludens, antwortet Konrad verwundert, sonderbar, dass man in diesem Lokal vor der Bestellung seinen Namen nennen soll. Die Signora zögert einen Augenblick und sagt mit verlegenem Lächeln: La festa per la famiglia. Das hier sei ein Familienfest, alles Verwandte, aus Pontasieve, aus Rom, aus Calabria. Calabria magnifico!, sagt Konrad, da habe ich »Bella Italia« gedreht, deutsches Exil in der Nazizeit, die Signora lächelt ins Ungewisse.
Trattoria alle Vignole?, erkundigt sich Sylvie zaghaft. No, no, casa privata, ein Privathaus sei das hier, die Trattoria sei auf der anderen Seite, dietro, hinter derBrücke, da ottobre chiuso, ab Oktober geschlossen. Die Leute mit den Koffern, denen sie so hoffnungsvoll gefolgt waren durch Gänseblümchenpfade und sumpfige Wiesenstücke, sind also geladene Gäste dieser venezianischen Familie, die heute ein Fest feiert, Hochzeit oder sechzigsten Geburtstag, ein Ereignis jedenfalls, zu dem man die ganze Familie zusammenruft, mit Sack und Pack, Schlafanzug und Zahnbürste. Um einen Todesfall scheint es sich jedenfalls nicht zu handeln, unter den alten Bäumen steht eine lange, fröhlich gedeckte Tafel mit Weinflaschen, Blumen und Girlanden. Jemand spielt auf dem Akkordeon Bella ciao, das Volkslied, das auch Partisanenlied war. »O partigiano, portami via … – oh Partisanen, oh nehmt mich mit euch, denn ich fühl, der Tod ist nah.« Italiener scheuen sich nicht, immer wieder die alten Lieder zu singen, die Vergangenheit hat einen Stammplatz an ihren Tischen, ohne Volare und Bella ciao wäre das Land verwaist.
Ein deutsches Ehepaar in Korbsesseln, ratlos, eine Signora unter Bäumen, ratlos. Scusi, signora, scusi! Non fa niente, macht nichts, sagt die Frau des Hauses. Bleiben Sie sitzen, trinken Sie ein Glas Wein bei uns, bestimmt sie, il vino bianco, molto bene! Wo wir uns nun schon den Weg gemacht hätten und die Trattoria geschlossen sei, sollten wir uns doch ein wenig ausruhen hier, es sei schwül heute und heiß, oggi caldo. Resolut stellt sie uns zwei Gläser und eine Karaffe auf den Tisch. Sie trinken Wein im Garten einer unbekannten Familie, näher sind sie den Venezianern nie gekommen.
Hast du die Zeit gesehen, Konni?
Eben war sie noch da, jetzt ist sie weg, vielleicht ist sie schüchtern, meint er.
Ich finde, sie steht gerade still, sagt sie, seit deiner Operation steht sie still.
Sie liebt mich eben, die Zeit, sie will bei uns bleiben, sie geht nicht weiter ohne uns, behauptet er.
Als sie ausgetrunken haben, verabschieden sie sich, Arrivederci, tante grazie. Sylvie lässt wie immer einen Rest in ihrem Glas, bloß nichts bis auf den Grund leeren, nichts bis zur Neige auskosten, eine Vorsichtsmaßnahme. Das Vaporetto, mit dem sie zurück in die Stadt fahren, hat viele freie Plätze. Sie setzen sich ganz nach vorn, auf die Spitze, das Meer aalt sich in der Herbstsonne. Frutti di mare, sagt Konrad, ich will frutti di mare.
Dank
An Franziska Günther,
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