Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
konfrontiert. Eine namensverwandte Familie hatte das Restaurant vom Hotel Reichshof reservieren lassen, und da hatte es gestanden, das goldene Wort auf einem goldenen Schild in der Hotelhalle: »Goldene Hochzeit Ludens«. Als sie Anstalten machte, ihr Zimmer zu beziehen, zeigte sich der Herr an der Rezeption außerordentlich zuvorkommend: Ah, Sie gehören zu der Bestellung im Restaurant, die Goldene Hochzeit! Der Kollege, der sie begleitete, hatte laut gelacht: Da habe sie ihn wohl alle Zeit über ihr wahres Alter getäuscht, ihn und alle Welt.
Wie absurd das damals war. Sylvie hebt ihr Glas an, hält es gegen das Licht und sieht durch den Wein hindurch einen sonnigen Schimmer: Das goldene Alter, es hat uns eingeholt.
Sei doch stolz, meint Konrad, ich jedenfalls, ich schnitt es gern in jede Rinde.
Du willst nur zeigen, dass du dir alles erlauben kannst und ich trotzdem bei dir geblieben bin.
Das ist ja eine schöne Bilanz zum feierlichen Anlass. Wenn du das Tagebuch meiner Geschiedenen gekannt hättest, hättest du mich gar nicht erst zum Mann genommen, und der Grund für die Eheschließung war eine Arbeiterrückfahrkarte.
Ich hab dich aber genommen, trotz alledem.
Sylvie holt zwei Seiten vergilbtes Durchschlagpapier aus der Tasche, Papier aus Schreibmaschinenzeiten: Zur Feier des Tages – die Wiederaufführung von »Der Bevorzugte«! Den Text hat sie vor dreißig Jahren geschrieben, für Konrad. Sie setzt ihre Lesebrille auf und liest vor.
»Liebe ist die Bevorzugung eines Menschen vor allen anderen. Eine ziemlich irdische Definition jenes himmlischen Gefühls, aber zuverlässiger als dieses. Sie bevorzugt seit zwanzig Jahren denselben. Vor allen anderen. Seit rund gerechnet siebentausend Tagen achtet sie beim Decken des Frühstückstischs darauf, dass seine Tasse links vom Teller zu stehen kommt, häufige Restaurantbesuche haben ihn misstrauisch gegen die rechte Seite gemacht, alle trinken rechts, also ist links sauberer. Sie sorgt auch dafür, dass er stets zum Hemd passende Socken im Schrank findet, Tribut an die einzige modische Kaprice eines in dieser Hinsicht gleichgültigen Menschen …«
Sollte ich das nicht lieber für mich lesen?, fragt Konrad mit einem Blick auf die Tische ringsum. Sie schüttelt den Kopf.
»Die Arbeitsteilung innerhalb der Familie ist klar. Sie die Prosa, er die Poesie. Sie die Stromrechnungen, er die Bücher, sie den Klempner, er den Klavierstimmer,sie die Kinder, er ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹. Solche Spezialisierung verschafft beiden Teilen Überlegenheit. Der Bevorzugte ist musisch. Sie hat sich damit abgefunden, als das Gegenteil zu gelten, Kompetenzen streitig machen bringt nichts.«
Ich überspringe jetzt mal was, beschließt Sylvie, mit einem Blick auf Konrad, der sich, von Peinlichkeit gefoltert, an sein Weinglas klammert.
Nur noch den Schluss – pass auf, drei Sätze: »Sie bevorzugen sich, weil sie sich lassen. Nur manchmal, wenn sie ihn sieht an einem sonnigen Vormittag mit einer unbekannten Schönen oder wenn er bemerkt, dass sie die Ansicht eines Freundes teilt und nicht seine, dann wünschen sie, Liebe sei die Bevorzugung eines Menschen. Ohne alle anderen.«
Hat sich einiges geändert seitdem, sagt Konrad, wir sind nun rund gerechnet achtzehntausend Tage zusammen, und ich bin jetzt dein Diener.
Eine Festanstellung in unsicheren Zeiten ist Gold wert, antwortet Sylvie, ich mache dir einen Vorschlag – wir heiraten nochmal, das ist heutzutage möglich. Wir lassen uns in der Basilica San Marco trauen, »bis dass der Tod euch scheidet«. Wir erneuern unser Eheversprechen: »In Liebe und Treue!« Diesmal nicht undercover wie damals, sondern endlich mal glorios, langes weißes Hochzeitskleid, Hochzeitskutsche und ein Fest im Hotel Excelsior am Lido, mit allen noch Lebenden.
Konrad guckt entgeistert – du willst mich nochmal heiraten? Du mich? Noch einmal? Das ist die ungeheuerlichste Liebeserklärung, die ich je gehört habe!
Draußen vor Timon, in einem Boot mit leuchtenden Fackeln, singt auf dunklem Wasser vor einem dunklenPalazzo ein Swingchor aus Stuttgart »Bei mir bist du scheen, please let me explain«, die Türen der Lokale am Canal Misericordia sind weit geöffnet.
»Weißt du noch, so frug die Eintagsfliege, wie ich auf der Stiege damals dir den Käsekrümel stahl? Weißt du noch, wie ich, weil ich dir grollte, Fliegenleim-Selbstmord verüben wollte? Und wie ich das erste Ei gebar? Weißt du noch, wie es
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