Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
die Sachlichkeit. Nach der geglückten Operation hatte er den Arzt gefragt: Was ist nun, Professor, habe ich Krebs, oder habe ich Krebs gehabt? Nein, Herr Ludens, Sie haben Krebs, Sie sind »auf Bewährung frei«. Das war vor drei Wochen, in Berlin.
Weit weg, hier ist Venedig. Gegenüber, auf der anderen Seite des Kanals, findet eine Hochzeit statt, eine jüdische Hochzeit. Die Braut im langen weißen Kleid schwankt auf hohen Schuhen mit dünnen Absätzen. Männer in schwarzen Anzügen, mit schwarzen Käppis, schwarzen Hüten und schwarzen Pejes laufen geschäftig umher. Man fotografiert sich, gefeiert wird im Gam-Gam nebenan, alles koscher. Sylvie versucht zu erkennen, ob sie schön ist, die Braut, doch ihr Gesicht wird verdeckt von langem, künstlich wirkendem schwarzem Haar. Das kurze Nerzcape, ein Erbstück wohl, macht Schultern und Dekolleté unkenntlich. Sie hat noch nie so eine Braut gesehen, wie eine Marionette, so eine unwirkliche,unheimliche, eine Puppe auf Stelzen, man kann nicht erkennen, ob sie alt ist oder jung, ob sie heiratet oder geheiratet wird, und welcher der schwarzen Männer der Bräutigam ist.
Sie hatten am Morgen eine Zeitung gekauft, in den Kleinanzeigen war eine »Nozze d’oro«, eine Goldene Hochzeit, annonciert. Die Venezianer Annamaria und Tiziano begehen heute »Il 50. Anniversario di matrimonio«, den fünfzigsten Geburtstag der Eheschließung. Auf dem Foto in der Zeitung sehen sie aus, als hätten sie sehr jung geheiratet, Sylvie ist froh, dass die beiden so zugewandt wirken, sie könnten eine Weinhandlung betreiben oder eine Trattoria. Sie stellt sich vor, wie sie vor fünfzig Jahren aussahen, wie sie tanzten auf ihrer Hochzeit, lachend und mit schwarzem Haar, und wie Tiziano zu seiner Braut sagte: Tu mi piaci, amore mio. Wie wird wohl ihr Fest heute sein, mit Francesco und Tiziana, den Kindern, mit Vanessa und Gabriele, den Enkeln, mit den Urenkeln Sofia, Carlo und Anna und all den Freunden rundherum, und wer wird heute sagen: Tu mi piaci, amore mio.
Ihr kommt das alte Paar in den Sinn, das seine Goldene Hochzeit im Café Concordia in Berlin gefeiert hatte. Vor zwanzig Jahren war das. Sie hatte die beiden interviewt, Kurt und Frieda. Wie hat sie ausgesehen, Ihre Frau, damals, als Sie sich beim Tanzen kennen lernten? Den Schlager wusste Kurt noch: »Wenn du einmal dein Herz verschenkst, dann schenk es mir«, wie seine Frau ausgesehen hat, war ihm entfallen. Tochter, Schwiegersohn, Enkelin und Urenkel brachten fünfzig weiße Nelken. Es gab Cocktails, Buttercremetorte und eine Aufschnittplatte. Vati, weißt du wirklich nicht mehr, wie deine Frau aussah? Dunkelblond,grüne Katzenaugen, ein schwarzes Seidenkleid mit lila Kante, zitierte die Tochter aus der Familiengeschichte. Der Jubilar hatte nur gelächelt: Alkolat gabs. Frieda, seine Frau, trank Eierlikör und erzählte Sylvia ihre Sorgen: Mit der Rente kommen wir aus, aber es darf keiner von uns beiden sterben, Kurt ist schon fünfundachtzig, ich dreiundachtzig. Was sich verändert hat in all den Jahren, wollen Sie wissen? Wir lieben uns nicht mehr, neunzehnhundertdreiundachtzig war das letzte Mal, hätte ruhig länger gehen können.
Kurt und Frieda, zwei putzige alte Leutchen, hatte Sylvia damals in einer Mischung aus Rührung und Mitleid gedacht, Kurt und Frieda, Generationen von ihr entfernt. Kurt und Frieda sind alt, ich nicht, ich könnte ihre Tochter sein. Jung waren wir alle mal, alt sind immer nur die anderen. In unserem Unterbewusstsein kommt das eigene Alter nicht an, Altersschutzgesetz, die Vision der Jugend bleibt verbindlich bis ins hohe Alter.
Am Abend feiern sie ihr Fest. In einer Enoteca an einem schmalen, träge fließenden Kanal, Timon heißt sie, überfüllt und studentisch, zwei Jungs mit runden Brillen führen den Laden. Sylvie geht auf Reisen gern in Lokale, die sie sich mit fünfundzwanzig ausgesucht hätte, was damals nicht möglich war, denn da war die Welt geschlossen für Sylvia und Konrad in Ostberlin. Sie finden Platz an einem der Holztische und bestellen Weißwein und Cichitos, kleine Brote mit Stockfisch, Baccala, obwohl Konni lieber welche mit Lachs isst, Lachs kennt er, aber er weiß das italienische Wort für Lachs nicht. Sylvia ist besser beim Improvisieren fremder Sprachen und hat deshalb die Hoheit über die Menüauswahl: Baccala per favore! Sie trägt dasKleid, das sie sich für den goldenen Anlass gekauft hat, schwarzer Taft mit Fünfziger-Jahre-Kragen, grundsolide, gerade noch
Weitere Kostenlose Bücher