Spiegelkind (German Edition)
er, sobald er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte: »Pass doch auf, du Phee!« Es klang wie ausgespuckt.
Der erste schwarze Punkt
»Du Phee!«
»Du Phee!«
Die Worte klopften zwischen meinen Schläfen, während ich mich auf den Weg zu unserem Lernraum machte. Wie viel Verachtung und Ärger da mitgeschwungen hatten.
In puncto Schimpfwörter war ich ein ziemlich unbeschriebenes Blatt gewesen, bis ich auf das Lyzeum kam.
Unsere Mutter mochte es nicht, wenn sich jemand in ihrem Beisein verächtlich über andere äußerte. Deswegen redete sie fast nie mit unseren Nachbarn, beteiligte sich nicht an Klatsch und Tratsch über den Zaun hinweg, an den Vergleichen von Autos, Dienstgraden, Noten. Ich hatte immer gedacht, ihre Zurückhaltung hätte nur damit zu tun, dass sie eigentlich wusste, über wen hinter ihrem Rücken am meisten getratscht wurde: über sie selbst. Und sie war wirklich etwas seltsam, ein klein bisschen auffällig, anders, deswegen zog sie sich zurück, war fast nie auf der Straße.
Wenn mein Vater zu Hause von einem schlechten Mitarbeiter erzählte und ihn »den Fetten« nannte oder über ein Kind aus der Schule der Zwillinge sagte: »Das ist doch der Kleine, der so nuschelt«, dann fuhr unsere Mutter ihm immer über den Mund. Ihre Kinder sollten sich nicht daran gewöhnen, Menschen an körperlichen Auffälligkeiten festzumachen, sagte sie. Es war allein ihre Schuld, dass ich bis vor Kurzem gedacht hatte, »behindert« würde gar nichts Schlimmes bedeuten.
Dass Pheen mehr als Märchenwesen aus Bilderbüchern oder Fantasyromanen waren, dass es sie in der Zeit der Normalität immer noch gab, dass sie schmuddelig und gefährlich waren, dass sich Experten mit der Frage auseinandersetzten, wie man sich vor ihnen schützte – das alles hatte ich bis heute vollkommen verpasst. Als hätte ich eine Brille aufgehabt, die diesen Teil des Lebens vor mir verbergen sollte. Es war etwas, was offenbar jeder wusste, ein bestimmtes Bild, das sofort vor jedermanns innerem Auge entstand, wenn das Wort Phee fiel. Nur eben nicht vor meinem. Mein Kopf war dank meiner Mutter ein Naturschutzgebiet für falsche Vorstellungen geworden.
»Du Phee!«
Ich wusste selber nicht, wie mir diese zwei Worte entfuhren, bloß weil mich jemand angerempelt hatte. Es hatte schon zur ersten Lerneinheit geklingelt und Verspätungen waren auf dem Lyzeum ebenso gern gesehen wie ein auf die Touchscreens verschütteter Vitaminsaft. Meine Schultasche war mir von der Schulter gerutscht, ich fing sie mit einer Hand auf.
Doch plötzlich konnte ich meine Hand nicht mehr bewegen. Erst einen Bruchteil einer Sekunde später begriff ich den Grund dafür. Sie wurde festgehalten von einer anderen, feingliedrigen Hand, die aus einem ebenso schwarzen Ärmel ragte wie meine.
»Dein Name und deine Lerngruppe!«
Ich war von einem Mitglied der Aufsicht erwischt worden.
»Ähhh …«, stotterte ich. So etwas passierte mir zum ersten Mal auf dem Lyzeum und ich hatte eine leise Ahnung, dass es unangenehm werden könnte.
Die fremden Finger hielten meine Hand immer noch fest, drehten sie so um, dass mein Ärmel hochrutschte und das Armband an meinem Handgelenk freigab. Darauf war meine Nummer eingraviert, die die Aufsicht mit einem kleinem Gerät einscannte und interessiert den Text durchlas, den das Display daraufhin zeigte.
»Erster schwarzer Punkt für dich, Juliane Rettemi! Der erste in vier Jahren! Schäm dich.«
»Aber was habe ich denn gemacht?«
»Geflucht hast du, Juliane Rettemi.«
»Habe ich doch gar nicht!«
»Willst du dich mit mir streiten, Juliane Rettemi? Willst du gleich deinen zweiten schwarzen Punkt?«
»Nein«, sagte ich. »Bitte nicht.«
»Das Ph-Wort«, die Pausenaufsicht kicherte und verlor für einen Augenblick ein paar Gramm Überheblichkeit. »Das mit den vier Buchstaben. Auf dem Schulgelände im Beisein mehrerer Mitschüler. Besser dich!« Und drehte sich um und ging hüftschwingend davon, ein langes, fast durchsichtiges Wesen, von dem ich immer noch nicht wusste, ob es jetzt eigentlich ein Junge oder ein Mädchen war.
Ich hatte die erste gute Idee dieses Tages. Ich ging nicht an meine persönlichen Schulgeräte, die verführerisch an meinem Arbeitsplatz leuchteten, sondern an die Bildschirme im Flur, die allen zur Verfügung standen. Ohne wirklich zu verstehen, was ich gerade tat, holte ich einen Kaugummi aus der Tasche, wickelte ihn aus dem Papier, kaute ein paar Sekunden an ihm herum und klebte ihn schließlich auf das
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