Spiegelkind (German Edition)
kümmern als vorher.
Trotzdem war ich am Anfang sauer auf sie gewesen, weil mein Vater ihretwegen so leiden musste. Aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr darauf, ihn ständig zu trösten. Er war einmal zu oft in mein Zimmer gekommen, als ich schon fast eingeschlafen war, hatte mich geweckt und zu erzählen begonnen, wie einsam er war und dass ich mich als seine älteste Tochter jetzt mehr um ihn kümmern müsste. Was unlogisch war, denn bis dahin hatte er noch gepredigt, ich soll unbeschwert die letzten Jahre meiner Kindheit genießen, bevor der Ernst des Lebens käme. Ich bräuchte mich im Gegensatz zu ihm noch um nichts zu kümmern, außer zur Schule zu gehen und mich an ein paar Regeln zu halten. Er habe es in meinem Alter nicht so gut gehabt und ich solle mich glücklich schätzen.
Wahrscheinlich hatte er sogar recht: Außer der Trennung meiner Eltern gab es lange Zeit nichts, was mich hätte stressen können. Zur Schule fuhr ich mit dem Schulbus, danach kam ich nach Hause. Der Haushalt machte sich, wie es mir schien, von alleine. Ich musste nie auf meine kleinen Geschwister aufpassen – das taten meine Eltern oder Großeltern. Ich ging niemals Lebensmittel einkaufen und hatte noch nie im Leben etwas gekocht. Das Einzige, was ich gelegentlich aufräumen musste, war mein eigenes Zimmer.
Manchmal war es fast ein wenig langweilig.
Als mein Vater angefangen hatte, von mir Fürsorge einzufordern, versuchte ich erst, es ihm recht zu machen. Ich kümmerte mich um ihn, so gut ich konnte. Ließ mir von ihm den Kopf streicheln, mich mit weinerlicher Stimme seinen größten Schatz nennen, reichte ihm auch nachts um halb zwei die parfümierten Papiertaschentücher, die seine Firma herstellte und die wir in großen Mengen und allen Duftrichtungen zu Hause hatten. Und hörte dabei langsam auf, ihm zu glauben.
Denn ich wusste nur zu gut, dass er anders sein konnte. Mein Vater arbeitete in der Geschäftsführung des Hygieneartikel-Konzerns HYDRAGON und als kleines Kind war ich ungeheuer beeindruckt gewesen, wenn ich ihn im Büro besuchen durfte. Dort hatte ich zum ersten Mal mitbekommen, wie mein Vater seine Stimme ändern konnte, je nachdem, mit wem er gerade sprach. Mit seiner Sekretärin herrisch oder kühl. Mit einigen Kollegen so herzlich, als würden sie zu unserer Familie gehören. Und einmal hatte ich sogar etwas schier Unglaubliches beobachtet: Im Gespräch mit einem winzigen runzligen Mann hatte es mein Vater durch eine interessante Verschränkung der Beine und gebeugte Haltung tatsächlich geschafft, sich unauffällig einen ganzen Kopf kleiner zu machen. Diesem Mann gehörte der Konzern.
Irgendwann begann ich, mich zurückzuziehen, wenn Papas Woche anbrach und er mit einem Koffer in das Haus einzog und mit unserer Mutter in der Küche wichtige Dinge absprach, bevor sie mit ihrer Tasche ging. Sie nannten das »Übergabe«, als wären wir Pakete mit dem Aufkleber »Vorsicht, Glas!«.
»Deine Mutter ist verschwunden«, sagte mein Vater und das sagten auch die Polizisten, die das Chaos mit Blitzlicht fotografierten. Ein Polizeiauto parkte vor der Tür und ein Mann saß bei uns in der Küche. Man sagte mir, ich solle sitzen bleiben und die Beamten ihre Arbeit machen lassen, und da saß ich nun und einer der Polizisten erzählte mir irgendwas über seinen Neffen, der fast so alt war wie ich, nämlich dreizehn, und sensationell Tennis spielte.
»Ich bin nicht dreizehn, ich bin fünfzehn!«, sagte ich sauer. »Und meine Mutter ist nicht einfach verschwunden. Hier ist doch etwas Schreckliches passiert, das würde selbst ein Blinder sehen.« Zu den Tenniserfolgen des Polizistenneffen hätte ich mich auch unter besseren Umständen nicht geäußert. Ich hasste Tennis. Es gab leider auch keinen anderen Sport, in dem ich gut war. Aber der Polizist tat die ganze Zeit so, als würde er mich nicht hören. Wahrscheinlich hatte er eine Fortbildung belegt zum Thema, wie man Jugendlichen nach einem Verbrechen das Gehirn zu Brei zerredet, damit sie bei der Ermittlungsarbeit nicht stören.
Ich aber wollte helfen. Ich wollte, dass sie sich sofort an die Arbeit machten und meine Mutter fanden. Menschen konnten nicht einfach verschwinden, nicht am helllichten Tage aus dem eigenen Haus. Nicht in unserer Zeit – der Zeit der totalen Normalität.
Also stand ich immer wieder auf und rannte zu den Polizisten, die durch das Haus liefen und Teppiche anhoben und hinter Spiegel schauten, als würde sich meine Mutter dahinter
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