Spiegelkind (German Edition)
Das Verschwinden
»Schau lieber nicht hin«, sagte mein Vater und versperrte mir den Weg.
»Wieso?«, fragte ich und versuchte, unter seinem linken Arm durchzuschlüpfen, mit dem er sich am Türpfosten abstützte. Es war mir fast gelungen, doch dann hielt er mich an der Kapuze fest.
»Jetzt lieber nicht.«
»Aber wieso?« Ich schüttelte den Kopf, um mich aus seinem Griff zu befreien. Normalerweise berührte er mich gar nicht.
Mein Vater ließ die Kapuze los, legte mir dafür beide Hände auf die Schultern. Sie fühlten sich schwer an. Mein Vater war dünn und hochgewachsen, kein kräftiger Mann, eher der Typ Trauerweide. Jetzt bückte er sich zu mir runter, um mir in die Augen zu schauen. Ich starrte zurück. Er sah wieder weg.
»Was soll das alles?« Ich schüttelte seine Hände ab. »Was tust du überhaupt hier?«
»Juli«, sagte er, diesmal ohne mich anzusehen. »Ich muss dir etwas sagen.«
Das hatte ich mir schon gedacht, so merkwürdig, wie er sich verhielt. Außerdem hatte er hier an diesem Tag gar nichts zu suchen. In dieser Woche war meine Mutter dran. Mein Vater sollte in ihrer Zeit nicht auftauchen und umgekehrt auch. Das war eine Vereinbarung, die von ihren Anwälten ausgehandelt und von meinen Eltern im Gerichtssaal unterschrieben worden war.
Sie wurde nur im Notfall außer Kraft gesetzt.
Mein Herz schlug gegen meine Rippen, als hätte ich unseren Kanarienvogel Zero verschluckt. Ich riss mich zusammen, um mir meine aufsteigende Angst nicht anmerken zu lassen.
»Juli, mein Mädchen.« Mein Vater sprach mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit. »Ich muss dir etwas sagen. Es ist etwas Schlimmes passiert.«
Ich riss mich los und schoss an ihm vorbei ins Innere des Hauses.
Ich rannte durch den Flur, der dunkel war, weil alle Türen geschlossen waren. Ich konnte kaum etwas sehen. Draußen hatte grell die Sonne geschienen. Ich stolperte geblendet über die Schuhe, die meine Geschwister Jaro und Kassie abgeworfen und mitten im Weg liegen gelassen hatten. In den Wochen mit meiner Mutter lagen die Dinge einfach rum. In den Wochen meines Vaters standen alle Schuhe im Schuhschrank, alle Tassen im Küchenschrank, mit den Henkeln in die gleiche Richtung gedreht, und alle Zeitungen steckten nach Datum sortiert im Zeitungsständer.
Ich riss die Wohnzimmertür auf.
Dieses Chaos hätte selbst meine Mutter mit uns drei Geschwistern zusammen nicht anrichten können.
Die Zeitungen bedeckten im wirren Durcheinander den Boden. Die Blumentöpfe waren alle umgeworfen, dazwischen lag verstreute Erde, die Stängel der Pflanzen waren abgebrochen und einzelne Blütenblätter flogen umher, was dem Raum eine unpassende Festlichkeit verlieh. Jemand hatte die Bücher aus den Regalen gerissen und die Schubladen aus ihren Verankerungen. Die Tür von Zeros Käfig stand offen. Der Käfig war leer, nur eine einzige gelbe Feder klebte am Gitter und flatterte im Luftzug.
Ich drückte den Rücken gegen den Türpfosten, rutschte langsam herunter und biss mir vor Aufregung in die Hand. Einbrecher. Bei uns war eingebrochen worden.
Mein Vater kam rein und hockte sich neben mich.
»Du solltest so etwas Schreckliches nicht sehen«, sagte er.
Ich sah ihn an und er wich zurück.
Keine Ahnung, wann genau es angefangen hatte, aber irgendwas zwischen uns lief nicht mehr so gut wie früher. Als ich klein war, hatte ich meinen Vater unglaublich bewundert. Später hatte ich ihn einfach nur geliebt und irgendwann hatte ich mich dabei ertappt, dass ich ihn bemitleidete. Es hatte ihn ziemlich umgehauen, als meine Mutter beschlossen hatte, ihn zu verlassen.
Nach der Trennung brach er schon mal am Frühstückstisch in Tränen aus, völlig unvermittelt, während meine Geschwister und ich den Blick verlegen auf unsere Vollkorncroissants senkten. Er erzählte sogar den Nachbarn auf der Straße, wie schlecht es ihm und uns allen ginge und wie schrecklich sich unsere Mutter verhalten hätte, indem sie aus heiterem Himmel beschloss, unsere heile Familie zu verlassen. Damit legte er ein Verhalten an den Tag, das er bei anderen als skandalös bezeichnet hätte.
Das mit dem heiteren Himmel stimmte auch überhaupt nicht – bei uns zu Hause hatte es schon seit Jahren nach Gewitter gerochen, nach elektrisch geladener Luft, mit Donnergrollen im Hintergrund. Auch hatte Mama zwar unseren Vater verlassen, nicht aber die Familie. Jaro, Kassie und ich waren schließlich auch noch da und meine Mutter hatte nicht vor, sich nach der Trennung weniger um uns zu
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