Spiegelkind (German Edition)
kochte innerlich.
»VON. MEINER. MUTTER. DIE. ENTFÜHRT. WORDEN. IST.«
»Wir haben uns doch drauf geeinigt, dass sie nicht entführt worden ist«, sagte mein Vater und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
»Wir haben uns nicht drauf geeinigt«, sagte ich. »Das kannst du vielleicht den Kleinen erzählen, aber doch nicht mir. Sie liegt jetzt ganz bestimmt nicht irgendwo am Strand im Liegestuhl!«
»Schrei nicht so rum, Juli«, sagte mein Vater. »Es ist noch so früh und ich habe Kopfschmerzen.«
»Ich gehe heute zur Polizei und frage noch mal nach«, sagte ich.
Er sah auf. »Wieso?«
»Ich hatte das Gefühl, die wollten sich gestern nicht wirklich um den Fall kümmern. Ich hatte das Gefühl, die halten uns für dumm.«
»Ach, Unsinn«, sagte mein Vater. »Niemand hält dich für dumm. Die Polizei hat nur ihre Arbeit getan. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Panik. Sie sind Experten. Sie werden wohl besser als du wissen, was in solchen Fällen zu tun ist.«
»Von wegen! Sie haben doch regelrecht die Spuren verwischt.«
»Wo hast du bloß solche komischen Sprüche her?«
Ich zuckte mit den Schultern.
Mein Vater stellte seine Tasse auf den Tisch. »Du liest zu viel«, sagte er. »Und vor allem das Falsche.«
Er war schon immer der Meinung, dass ich zu viel Schund las. Er selber konsumierte ganz andere Dinge als ich. Meine Lieblingsromane und Filme nannte er Freak-Lektüre. Das hieß: reine Zeitverschwendung, und gefährliche dazu. Er war überzeugt davon, dass meine Bücher mir eine Wirklichkeit vorgaukelten, die vom normalen Leben ablenkte. Er selber las viel Zeitung und Sachbücher, die mit seiner Arbeit zu tun hatten, sonst noch philosophische Abhandlungen über das Prinzip der Normalität und immer wieder Krimis. Zudem hatte er eine Vorliebe für Katastrophenromane. Es war mir ein Rätsel, warum er die fantasievollen Cover meiner Bücher als widerwärtig bezeichnete, während ich von den bluttriefenden und grässlich realistischen Umschlägen auf seinem Nachttisch einen Würgereiz bekam.
Die meisten Romane zu Hause gehörten meiner Mutter. Es waren fast alles sehr alte Bücher, provozierend unmodern in Größe und Gestaltung. Ab und zu blätterte ich in einem von ihnen, aber ich verstand nicht viel. Das Schriftbild war schwer zu entziffern und machte mir nach wenigen Sekunden Kopfschmerzen. Und nicht nur mir. Als meine Mutter ausgezogen und Papas erste Woche angebrochen war, kam meine Großmutter väterlicherseits, um endlich mal richtig zu putzen. Als Erstes schleppte sie Dutzende Bücher aus dem Wohnzimmer in den Keller, stapelte sie in Kartons, ließ die Regale vom Abräumdienst abholen und hängte an den frei gewordenen Stellen Wandteppiche und riesige Spiegel auf.
Deswegen hatte ich damals einen ersten kleinen Knatsch mit ihr. Schließlich waren bei jenen Büchern auch zufällig einige von mir dabei gewesen und ich hatte keine Lust, sie jedes Mal im kalten dunklen Keller zu suchen. Ich hätte nie zugegeben, dass ich mit fünfzehn immer noch manchmal Angst hatte, abends allein in den Keller zu gehen, und stattdessen gern mal die kleine Kassie vorschickte. Die fürchtete sich nur demonstrativ vor etwas, wenn unser Vater in der Nähe war. Dann konnte er sie sofort retten und war glücklich, während meine Schwester sich ins Fäustchen lachte. Denn ansonsten war sie völlig unerschrocken.
»Ich frage mal auf dem Lyzeum rum, ob es normal ist, dass die Polizei sich so verhält«, murmelte ich, dann griff ich nach der Marmelade, um mir ein Brot zu schmieren. »Vielleicht versteht dort jemand etwas davon.«
»Juli!« Mein Vater, der gerade die Thermoskanne aufschraubte und mit einem Auge reinschaute, um zu prüfen, ob noch Kaffee drin war, ließ vor Schreck fast den Deckel fallen. »Du darfst niemandem erzählen, was hier passiert ist, verstehst du?«
»Papa!« Kassies Gebrüll kam nicht von oben aus dem Kinderzimmer, sondern aus dem Erdgeschoss. Aus dem Schlafzimmer meines Vaters. Sie hatte schon wieder in seinem Bett geschlafen. Irgendwie regte mich das auf. Vielleicht war ich eifersüchtig. Das warf mir mein Vater vor, wenn ich ihm sagte, er soll Kassie nicht immer so verwöhnen, sie wäre zu groß dazu. Und er sagte, ich sei einfach neidisch, weil ich schon viel zu alt dafür war, bei ihm auf dem Schoß zu sitzen. Dabei behauptete er sonst eigentlich gern, ich wäre für die meisten Dinge dieses Lebens zu jung – als wäre es das einzige Merkmal meines Alters, mit meinem Hintern nicht
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