Spiegelkind (German Edition)
selbst ich war erstaunt darüber, wie ich plötzlich zu meinem Vater sprach. In diesem Ton hatte ich ihn noch nie angefahren. Ich war schließlich Elite-Lyzeistin, ich war gut erzogen.
Jaro und Kassie hatten sich, kaum zu Hause angekommen, sofort an unseren Vater geklammert. Trotz seiner halbherzigen Beteuerungen, er habe alles im Griff, konnte auch ihnen nicht entgehen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Im Gegensatz zu mir glaubten sie ihm noch jedes Wort, aber es schien sie nicht zu trösten.
Ich hatte eigentlich vorgehabt, meinen Mund zu halten, wollte nichts von meinem Verdacht verraten, dass unserer Mutter etwas Schlimmes zugestoßen sein musste, nicht weinen, nicht wütend werden, um die Kleinen nicht noch mehr zu erschrecken. Sie sollten sich nicht so verlassen und elend fühlen wie ich. Trotzdem konnte ich mir nicht anhören, wie unser Vater derart dumme Lügen über unsere Mutter erzählte.
»Wenn du noch einmal so etwas sagst, rede ich überhaupt nicht mehr mit dir«, zischte ich ihm zu, bevor er Kassie auf den Arm nahm. Er trug sie gern herum. Und wenn unser Vater da war, verhielt sie sich wie ein Baby, obwohl sie es sonst faustdick hinter den Ohren hatte.
Irgendwie gelang es mir, diesen Tag zu überstehen, ein paar belegte Brote zu Abend zu essen, mir die Zähne zu putzen und mich ins Bett zu legen. Ich kroch unter die Decke und rollte mich zusammen, nachdem ich den Schlüssel im Schloss meiner Zimmertür mehrmals umgedreht hatte. Es war das erste Mal, dass ich mein Zimmer abschloss.
Ich hörte Jaro im Flur weinen. Er klopfte an meine Tür, aber ich hatte mein Kissen auf dem Kopf und versuchte einzuschlafen. Ich blieb liegen, während Jaro immer wieder klopfte. Ich konnte mich nicht um ihn kümmern, mir ging es schon schlecht genug.
Und dann lag ich doch die ganze Nacht wach und grübelte.
Ich gab jeden Versuch auf, noch einzuschlafen. Wieder und immer wieder ging ich durch, was ich heute erlebt hatte, vom ersten Moment an, in dem mir klar wurde, dass irgendwas schieflief.
Wahrscheinlich war das genau der Augenblick gewesen, als ich meinen Vater mittags in der Tür stehen sah. Ich hatte mich nicht gefreut, ihn zu sehen, weil es eben nicht seine Woche war. Eigentlich hatte ich mich sofort auf einen Streit zwischen meinen Eltern gefasst gemacht, denn ich hatte zuerst vermutet, dass mein Vater sich mal wieder nicht an die Abmachung gehalten hatte. Ab und zu tauchte er in Mamas Zeit auf, »nur so, zum Hallosagen«, hing in der Küche herum, wollte mit uns reden und machte uns alle nervös. Wir waren heilfroh, wenn er endlich wieder ging. Schließlich gab es die Vereinbarung und mein Vater war normalerweise ein großer Fan von Vereinbarungen, ganz besonders von schriftlichen.
Je länger ich wach lag und grübelte, desto weniger wollte ich glauben, dass meiner Mutter etwas Schlimmes zugestoßen war. Ich wollte es einfach nicht. Ich ging fest entschlossen davon aus, dass alles nur ein Missverständnis war, ein kleiner Unfall meinetwegen. Ein saublöder Hausdieb von mir aus, der Mama … was? Einfach mitgezerrt hatte?
Es würde sich schon irgendwie aufklären, meine Mutter würde nach Hause kommen, mein Vater würde wieder gehen und in seiner Woche einen Tag später übernehmen als ursprünglich geplant, als Ausgleich für seine Extrazeit mit uns.
Das war auch Teil der Vereinbarung: Jeder Elternteil durfte die aus schwerwiegenden Gründen verpasste Zeit nachholen. Mein Vater war zum Beispiel neuerdings ziemlich oft krank und dann kümmerte sich unsere Mutter auch in seiner Zeit um uns. Danach kam er zum Ausgleich für zwei Wochen am Stück.
Ich lag unter meiner Decke und grübelte und hatte noch keine Ahnung, dass in dieser Nacht, in der Sekunde, in der ich nach Hause gekommen war und an Mamas Stelle Papa entdeckte, dass genau dann meine Welt begann, sich auf den Kopf zu stellen. Es war nur eine leise Ahnung, dass mein Leben bis jetzt vielleicht gar nicht mein richtiges Leben gewesen war. Die Vorstellung machte mir Angst. Ich zog mir die Decke über den Kopf, einen Vorhang über jene meiner Gedanken, die mich verstörten.
Ich wollte gar nicht, dass sich irgendwas änderte. Ich war bereit, bis zum Morgen zu warten, und spätestens dann sollte alles bitte schön wieder normal werden. Ich wollte kein anderes Leben. Meins war okay, nicht aufregend, aber eben meins.
Wahrscheinlich fing ich bereits in dieser Nacht an, mich zu verändern. Aber das bekam ich nicht mit, denn mich selber ändern
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