Spiegelschatten (German Edition)
Jede Berührung ließ ihn zusammenzucken, obwohl Björn sehr vorsichtig war.
» Meinst du nicht, wir sollten ins Krankenhaus fahren?«, fragte Björn. » Vielleicht muss das genäht werden.«
» Nein. Keine zehn Pferde kriegen mich dahin.«
» Das ist keine große Sache. Die machen das ambulant. Wir können danach sofort wieder gehen.«
Maxim hatte keine guten Erinnerungen an Krankenhäuser und Ärzte. Er war ein empfindliches Kind gewesen, hatte sich jeden Virus eingefangen und jede Kinderkrankheit durchlitten. Beim geringsten Anlass hatte er mit Fieber reagiert, und in der Schule musste er sich oft vom Sportunterricht befreien lassen.
» Nein. Nicht ins Krankenhaus.«
Außerdem hatte er gestottert. Er brauchte nur daran zu denken, dann empfand er wieder die quälende Scham von damals, die Bedrängnis, aus der er sich allein nicht befreien konnte.
Seine Eltern hatten viel zu lange gewartet, bis sie einsahen, dass er professionelle Hilfe brauchte. Die regelmäßige Arbeit mit einem Logopäden hatte Maxim nach und nach das vermittelt, was seine Eltern ihm nicht geben konnten, ein gewisses Zutrauen in seine Fähigkeiten.
» Das hängt mit früher zusammen«, sagte er. » Aber ich will nicht darüber reden.«
Reiß dich zusammen.
Der Lieblingssatz seines Vaters.
Memme.
Seine Lieblingsbeschimpfung.
Ein Junge weint nicht.
Selbst das hatte Maxim zu hören bekommen. Ständig. Als hätte sein Vater keinen anderen Gedanken im Kopf gehabt als den, aus Maxim einen richtigen Mann zu machen.
Er konnte nichts anfangen mit einem Sohn, der sich an Karneval als Prinz verkleiden wollte, statt in die Rolle eines Cowboys oder Indianers zu schlüpfen. Der lieber mit der Schwester und ihren Freundinnen loszog, als seine Freizeit mit Freunden auf dem Bolzplatz zu verbringen.
Und die Mutter hielt sich raus.
Fast hatte Maxim den Eindruck gehabt, sie sei froh darüber, dass ihr Mann sie in Frieden ließ und seinen Frust an Maxim austobte.
Björn fragte nicht nach und Maxim war ihm dankbar dafür. Noch nie hatte er jemandem von seiner Kindheit erzählt. Der Einsamkeit. Den Schmerzen.
Der Unsicherheit.
Bevor er wusste, dass er sich zu Jungen hingezogen fühlte, hatte sein Vater es schon erahnt. Und versucht, es aus ihm herauszuprügeln.
Maxim erinnerte sich an den Raum, in dem die Züchtigungen stattfanden. Als hätte man ihn eigens zu diesem Zweck gebaut. Ein Kellerraum, in dem ausrangierte Möbelstücke abgestellt waren, die Winter- oder die Sommerreifen gelagert wurden, je nach Jahreszeit. In dem die Waschmaschine und der Wäschetrockner standen, in dem es nach Waschmittel roch und nach Feuchtigkeit.
Das kleine Fenster, blind von Schmutz, ließ kaum Licht herein. Die Neonröhre an der Decke knisterte. Sie war spinnwebverhangen.
Der Vater hatte während der Züchtigung nicht gesprochen. Man hatte nur das schreckliche Klatschen des Gürtels auf Maxims nackter Haut gehört.
Aber keinen Schrei.
Keinen einzigen Schmerzenslaut.
Dass Maxim nicht jammerte und nicht um Schonung bat, machte den Vater noch zorniger. Er schlug und schlug. Hoch konzentriert. Präzise. Erbarmungslos.
Erst wenn seine Arme keine Kraft mehr hatten, stieß er Maxim zur Seite und ließ ihn auf dem kalten Fliesenboden liegen wie einen Lumpenfetzen. Seine Schritte entfernten sich und verklangen im Haus.
Die Mutter versorgte Maxims Rücken. Dabei weinte sie leise.
Strich ihm übers Haar.
Schweigend.
Und Maxim wünschte sich, unsichtbar zu werden, sich aufzulösen, einfach nicht mehr zu sein.
Nach Jahren war ihm das schließlich gelungen. Jemand sah ihn mit seinem ersten Freund und tratschte es herum.
Von diesem Augenblick an war Maxim für seine Eltern gestorben.
» Dann iss wenigstens eine Kleinigkeit«, sagte Björn. » Damit du wieder gesund wirst.«
Er hatte recht. Maxim durfte sich nicht so gehen lassen.
Nicht jetzt.
Reiß dich zusammen, hörte er seinen Vater sagen.
Und er verzog verächtlich den Mund.
*
Reiß dich zusammen!
Die Stimme war so groß. Sie machte ihn zu einem Käfer, der auf dem Rücken lag und hilflos mit den Beinen zappelte.
Er wusste, was er zu tun hatte, doch er konnte es nicht tun. Seine Hände und Füße gehorchten ihm nicht. Er schaffte es nicht einmal, sich die Tat vorzustellen.
Du weißt, dass er den Tod verdient hat.
» Nein.«
Du weißt es genau. Er ist schlecht. Verdorben.
Nein …
Was tut man mit einer faulen Frucht?
Antworte mir!
Was tut man mit ihr?
Er ist nicht … ist keine … er …
Man
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