Spiegelschatten (German Edition)
Frau richtete ihre Worte jetzt ausschließlich an Rick. Ihre Augen schwammen in Tränen. Aus den Tiefen seiner Ritterrüstung zauberte Rick ein Papiertaschentuch hervor. Sie nahm es mit zitternden Fingern.
» Ich hab sofort gewusst, dass er… tot war. Und dann hab ich die Polizei gerufen.«
Zwei Tränen rollten über ihre Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg, als hätte sie vergessen, dass sie ein Taschentuch in der Hand hielt.
» Und dann war da ein Geräusch, und ich hab plötzlich das Gefühl gehabt, nicht allein zu sein. Ich dachte: Hau ab! Hau doch ab! Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht …«
» Was für ein Geräusch?«, fragte Titus Rosenbaum.
Sie schaute ihn an, als hätte sie sich erst beim Klang seiner Stimme wieder an ihn erinnert. Kraftlos hob sie die Schultern.
» Gleich nachdem ich es wahrgenommen hatte, war es auch schon wieder verstummt. Ich hab den Atem angehalten und gedacht: Vielleicht steht der Mörder jetzt gerade hinter der Tür und hält ebenfalls den Atem an. Ich wusste, dass er mich nicht laufen lassen konnte, wenn es so war.«
Rick berührte tröstend ihre Schulter.
» Es dauerte ewig, bis ich mich regen konnte, und dann bin ich raus, diesmal die Treppe runter, und ich… hab mich in meinen Wagen gesetzt, auf den Knopf für die Zentralverriegelung gedrückt und auf Ihre Kollegen gewartet.«
Die Anstrengung, das alles in Gedanken ein zweites Mal zu erleben, war ihr ins Gesicht geschrieben. Titus Rosenbaum bedankte sich für ihr umsichtiges Verhalten und winkte der Beamtin, die sich schon vorher um sie gekümmert hatte.
Rick sah der jungen Frau nach. » Schade, dass sie sich nicht sicher war, was für ein Geräusch sie gehört hat.«
Bert knöpfte seinen Mantel zu, als sie das Haus wieder verließen und auf die Straße traten. Die Kälte setzte ihm zu. Das Bedürfnis, mindestens eine Stunde zu laufen, überfiel ihn so unvermittelt, dass er es kaum unterdrücken konnte.
Wenig später folgten sie Titus Rosenbaum in das Gebäude der Gerichtsmedizin, wo Dr. Maik Kantor mit dem Staatsanwalt und einem zweiten Arzt auf sie wartete. Das perfekte Zusammenspiel aller Beteiligten hatte es möglich gemacht, dass eine sofortige Obduktion durchgeführt werden konnte.
Rick war blass um die Nase, als sie auf den Tisch zugingen, auf dem der tote Erik Sammer lag, bereit, ihnen seine geheimsten Geheimnisse zu offenbaren.
Bert machte es wie immer, wenn er bei einer Obduktion anwesend war– er distanzierte sich von sich selbst und seinen Beobachtungen, zwang sich, das Geschehen wahrzunehmen, als schaute er sich einen Film an. Manchmal funktionierte das, manchmal nicht.
Heute funktionierte es nicht.
Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus und kroch ihm durch den ganzen Körper.
Dr. Kantor und sein Kollege begannen mit der Arbeit.
Die Zeit verging. Man hörte nur das Klappern der Instrumente und die Stimme Dr. Kantors, der knapp und sachlich dokumentierte, was er sah.
In der Kopfwunde fand er winzige Holzsplitter und Erdpartikel. Was bedeutete, dass die Tatwaffe aus Holz sein und Kontakt mit dem Erdboden gehabt haben musste.
Leonard Blums Wunde dagegen war sauber gewesen. Es handelte sich demnach um unterschiedliche Tatwerkzeuge.
» Das war nicht der letzte Mord«, murmelte Rick auf dem Weg nach draußen. » Darauf würd ich meinen Arsch verwetten.«
Bert nickte. Es stimmte so vieles überein, dass seine sämtlichen Alarmglocken schrillten. Beide Opfer hatten eine Verbindung zur Uni Bonn gehabt. Beide waren in ihrer Wohnung ermordet worden. Beide schienen ihren Mörder gekannt zu haben, denn in beiden Fällen hatte es keinen Kampf gegeben.
Der Täter war beide Male Rechtshänder gewesen, und er hatte sorgsam darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Sie brauchten sich nichts vorzumachen– er würde weitermorden.
Aber warum?
Welche Gemeinsamkeit zwischen den Opfern war der Grund für ihr Sterben gewesen? Womit hatten sie ihr Todesurteil unterschrieben?
Draußen war Licht. Und Luft.
Endlich hörten sie wieder Geräusche.
Das Institut für Rechtsmedizin lag am Stiftsplatz, mitten in der Stadt. Direkt am Eingang befand sich eine Haltestelle, und als Bert und Rick das Haus verließen, hielt gerade ein Bus der Linie24 vor ihnen.
Eine alte Dame stieg aus und ging langsam davon. Ihre dünnen Beine steckten in knöchelhohen Stiefeln, die aussahen, als seien sie zu schwer für sie. Als der Bus wieder anfuhr, wich sie ihm so weit aus, dass sie beinah die Hauswand
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