Nur Mut, liebe Ruth
Bauchlandung
In der Parkschule gab es ein
Lehrschwimmbecken, und das war natürlich eine feine Einrichtung, besonders in der
kalten Jahreszeit, wenn die Freibäder in der Stadt geschlossen waren.
Die Schülerinnen der Klasse 6 a
jubelten stets auf, wenn statt einer Turnstunde eine Schwimmstunde angesetzt
wurde. Nur für Ruth Kleiber war das ein Greuel.
Im vorigen Jahr, als Fräulein
Freysing, die junge und forsche Turnlehrerin, sich noch damit begnügt hatte,
Brust- und Rückenschwimmen mit ihnen zu üben, war es für Ruth immerhin noch
erträglich gewesen. Aber in diesem Schuljahr, da es ans Tauchen und Springen
ging, genügte schon der bloße Gedanke an eine Schwimmstunde, ihr die Tränen in
die Augen zu treiben. Sie nutzte jede Möglichkeit aus, sich vor der Teilnahme
zu drücken.
Die Schülerinnen der 6 a
hatten, zappelnd vor Ungeduld, am Kopfende des rechteckigen Schwimmbeckens
Aufstellung genommen, an der Spitze Katrin in einem knallroten Badeanzug, der
ihr gut zu ihrer, auch im Winter, leicht gebräunten Haut stand und den
schwarzen Augen. Leonore Müller, in einem hellblauen einteiligen Badeanzug,
half ihr, das schulterlange Haar zusammenzudrehen und unter die weiße Badekappe
zu stecken. Hinter den beiden drängten sich die anderen und zählten ab, um
Riegen zu bilden.
Nur die kleine Ruth war nicht
unter ihnen; sie duckte sich unter die Balustrade an der gegenüberliegenden
Seite, hinter der die Türen zu den Umkleidekabinen und — weiter hinauf — in das
Schulgebäude führten. Sie schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel,
daß Fräulein Freysing ihr Fehlen nicht entdecken möge.
Aber sie hatte die
Aufmerksamkeit der Turnlehrerin offensichtlich unterschätzt.
Fräulein Freysing, schlank und
muskulös in einem einfachen, knapp sitzenden Badeanzug, ließ einen einzigen
Blick über ihre Schäfchen gleiten, murmelte die Namen der Mädchen vor sich hin
und rief: „Ruth! Wieso ist Ruth nicht erschienen? Ist sie etwa krank?“
Die anderen sahen sich an,
leicht verlegen und betroffen. Sie wollten Ruth nicht hereinlegen, aber genauso
wenig Fräulein Freysing belügen.
Die Turnlehrerin wandte sich an
Katrin und zielte ihr mit dem Zeigefinger genau auf das Herz. „Ich frage dich!
Hat Ruth heute gefehlt?“
„Nein“, mußte Katrin wohl oder
übel zugeben.
„Also dann!“ Fräulein Freysing
tat einen tiefen Atemzug, sah sich in der Schwimmhalle um, und schon hatte sie
den kunstvollen Lockenaufbau der Drückebergerin entdeckt. „Aha! Da steckst du
also!“ rief sie. „Was ist los mit dir!“
Über der Balustrade erschien
ganz langsam auch der Rest der blonden Locken, die runde Stirn, die grünen
Augen, das Naschen, das Mündchen und endlich das ganze Brustbild der kleinen
Ruth. Ihre helle Haut war tief rosa angehaucht, und sie stotterte, tödlich
verlegen: „Fräulein Freysing, ich... also, das ist so...“
„Nun erzähl mir bloß nicht, daß
du dich nicht wohl fühlst!“ donnerte Fräulein Frey sing, und ihre kräftige
Stimme hallte ordentlich wider in der großen Halle. „Das ist schon die dritte
Turnstunde, in der du nicht dabei bist. Du willst mir doch nicht etwa
weismachen, daß du an einer schleichenden Krankheit leidest!?“
„Nein, nein, das nicht,
aber...“ stammelte Ruth.
„Nun komm schon!“ rief Katrin.
„Halt bloß nicht den ganzen Betrieb auf!“
„Sehr richtig“, stimmte die
sonst so geduldige Leonore zu, „das ist direkt eine Gemeinheit!“
Silvy Heinze, die sich bis
jetzt zurückgehalten hatte, weil sie sich in ihrem knappen Bikini — und wie
hatte sie die Mutter darum angebettelt! — doch nicht wohl fühlte, denn in der
Gegenwart der anderen war ihr bewußt geworden, daß sie mehr denn je wie eine
dürre Bohnenstange darin aussah, tauchte aus dem Hintergrund auf: „Ruth hat ja
bloß Angst um ihre Lockenpracht!“ rief sie.
Die anderen, die inzwischen
auch ungeduldig geworden waren, lachten und schimpften durcheinander.
Die rothaarige Olga Helwig
schrie: „Ach was, sie ist einfach wasserscheu!“
Fräulein Freysing war am
schmalen Rand des Beckens entlang zu Ruth hinübergegangen. „Stimmt das?“
„Aber nein!“ protestierte die
Kleine. „Natürlich nicht, überhaupt nicht! Nur... nur...“ Auf der Suche nach
einer Ausrede fiel ihr das Dümmste ein, was sie Vorbringen konnte: „Ich habe
meinen Badeanzug vergessen!“
„Wenn es weiter nichts ist! In
Kabine 10 liegt ein ganzer Haufen Badeanzüge und Badehauben. Du wirst schon was
Passendes
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