Spiegelschatten (German Edition)
gerade?«
» Im Alibi«, antwortete er. » Wo ich dich sehr gern angetroffen hätte, nachdem du gestern Abend so Hals über Kopf verschwunden bist.«
Manchmal fehlte der Schmalz in seiner Stimme, dann klang der wahre Ingo durch, und Romy wünschte, er würde sich nicht ständig hinter der Maske des toughen Reporters und Frauenhelden verstecken.
» Lädst du mich auf einen Cappuccino ein?«, fragte sie.
Pause.
» Wo ist der Haken, Romy?«
» Haken? Da tust du mir aber Unrecht, Ingo.«
» Tu ich nicht, und das weißt du genau.«
» Okay. Vielleicht hätte ich die eine oder andere Frage…«
Pause.
» Na ja, wenigstens bist du ehrlich.«
» Aber ich würde wirklich auch so gern ein bisschen mit dir quatschen. Außerdem lechze ich nach einem Cappuccino, und wenn du ihn mir sogar spendierst…«
» Mach dich auf die Socken, Mädchen. Ich bin nicht den ganzen Nachmittag hier.«
10
Schmuddelbuch, Donnerstag, 3. März, sechzehn Uhr fünfzehn
Hinter dem Kürzel E . S. verbirgt sich ein Erik Sammer. Mehr habe ich leider nicht aus Ingo herauskitzeln können, aber es grenzt schon an ein Wunder, dass er mir überhaupt etwas verraten hat. Ingo hat sich immer unter Kontrolle. Er würde sich nie verplappern, nicht mal nach dem zehnten Bier. Bestimmt hat er als Junge zu den Schülern gehört, die bei Klassenarbeiten den Arm vors Heft legen, damit der Nachbar nicht abschreiben kann.
So ist er noch heute. Und deshalb gibt es nur wenige, die ihn mögen. Genaugenommen kenne ich keinen Einzigen, der ihn mag.
Kaum war ich wieder in der Redaktion, hat Helen angerufen.
» Du, ich hab mit Cal geredet. Er macht sich Sorgen um dich.«
Er macht sich Sorgen? Um mich?
» Was ist los mit euch, Romy?«
Meine Kehle war wie zugeschnürt, und als ich endlich sprechen konnte, war meine Stimme ein einziges Krächzen.
» Lusina«, hab ich gesagt.
Mehr war nicht nötig, damit Helen begriff.
» Oh…« Und nach einem Moment der Stille: » Bist du sicher?«
» Ich habe ihn gesehn, Helen.«
» Gesehn? Du meinst– mit ihr?«
» Nein. Sein Gesicht, Helen, sein schlechtes Gewissen. Ich hab es plötzlich ganz sicher gewusst.«
Das Wunderbare an Helen ist, dass man ihr nichts erklären muss. So, wie ihre Finger Schwellungen und Zerrungen ertasten, erspürt sie, was unter der Oberfläche des Sichtbaren ist.
» Willst du einen Rat, Romy?«
Vielleicht hatte Cal sie aber auch ins Vertrauen gezogen und ihr sein Herz ausgeschüttet.
» Ja.«
» Sei traurig. Sei wütend. Schrei ihn an, brich in Tränen aus oder schmeiß Geschirr gegen die Wand– aber lass Cal nicht so ins Leere laufen. Du hast keinen wirklichen Beweis für deinen Verdacht, also gib ihm eine Chance, dir alles zu erklären. Mit deinem Schweigen löschst du ihn aus.«
Plötzlich hatte ich auf all das Lust. Zu schreien, mit Sachen um mich zu werfen, Sturzbäche an Tränen zu vergießen– und Cal aus meinem Leben zu katapultieren. Gleichzeitig wollte ich mich an ihn schmiegen und ihn flüstern hören, alles sei gut.
» Was immer du tun wirst«, sagte Helen, » ich bin für dich da.«
Ich nickte, unfähig zu sprechen. Dann hörte ich, dass Helen das Gespräch beendete.
Lass dich nicht hängen!
Erik Sammer. Student an der Uni Bonn. Wohnhaft in Bonn-Friesdorf.
Ich werde jetzt Google Maps aufrufen und mir ansehen, wo genau Bonn-Friesdorf liegt. Dann mit Björn telefonieren und ihn fragen…
Himmel, jetzt kommen die blöden Tränen doch.
…ihn fragen, ob er von dem zweiten Mord gehört hat. Und danach…
Nicht heulen. Nicht heulen. Nicht hier, wo jeder es sehen kann.
Google Maps. Sobald meine Finger aufhören zu zittern. Und dann raus hier, nur raus…
Sie hatten die Einkäufe auf dem Küchentisch ausgebreitet und überprüften nun, ob sie auch nichts vergessen hatten. Jeder Gast würde eine Kleinigkeit zum Essen beisteuern, dennoch war einiges vorzubereiten.
Maxim stellte den Wein kalt. Er war froh darüber, dass sie etwas zu tun hatten. Nur noch ein paar Stunden, dann war er wieder auf dem Weg nach Berlin.
Noch eine einzige Nacht, dachte er bedrückt.
Sie arbeiteten schweigend. Maxim zerteilte Tomaten und schnitt Mozzarella in dünne Scheiben. Björn wickelte Käsestücke aus dem Papier und ordnete sie auf einem großen Teller.
Auf der Straße spielten Kinder Fußball. Ihr Geschrei klang so lebendig und ausgelassen, dass Maxim sich fast wünschte, hinzulaufen und mitzuspielen.
Traurigkeit war in die Zimmer gesickert und klebte in allen Ecken. Weil sie sich
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