Spillover
die Kinderlähmung in weiten Teilen der Welt irgendwann verschwunden war. Im Jahr 1988 begannen die WHO und mehrere Partnerinstitutionen mit einem internationalen Projekt zur völligen Ausrottung, das ausgesprochen erfolgreich war: Die Zahl der Krankheitsfälle ist um 99 Prozent zurückgegangen. Nord- und Südamerika, Europa und Australien wurden mittlerweile für frei von Kinderlähmung erklärt. Neuesten Berichten zufolge kam die Krankheit 2011 nur noch in fünf Ländern vereinzelt vor: Nigeria, Indien, Pakistan, Afghanistan und China. Die Kampagne zur Ausrottung der Kinderlähmung könnte also im Gegensatz zu anderen gut gemeinten, teuren weltweiten Gesundheitsinitiativen Erfolg haben. Warum? Weil die Impfung von Millionen Menschen preisgünstig, einfach und dauerhaft wirksam ist, und weil das Poliovirus sich nirgendwo verstecken kann, wenn es keine Menschen infiziert. Es ist nicht zoonotisch.
Zoonotische Erreger können sich verstecken. Das macht sie so interessant, so kompliziert und so problematisch.
Die Affenpocken sind eine Krankheit ähnlich den Pocken; verursacht werden sie von einem Virus, das eng mit dem Pockenvirus verwandt ist. Doch diese Krankheit stellt für die Menschen in Zentral- und Westafrika nach wie vor eine ständige Gefahr dar. Die Affenpocken unterscheiden sich nämlich in einem entscheidenden Aspekt von den Pocken: Ihr Erreger kann nicht nur Menschen, sondern auch andere Primaten infizieren (daher der Name), außerdem verschiedene weitere Säugetiere wie Ratten, Mäuse, Eichhörnchen. Das Gelbfieber, das ebenfalls für Menschen und Affen ansteckend ist, wird von einem Virus verursacht, das sich über den Stich bestimmter Mücken verbreitet – manchmal auch von Affen zu Menschen. In solchen Fällen ist die Sache komplizierter. Das hat unter anderem zur Folge, dass das Gelbfieber bei Menschen wahrscheinlich auch weiterhin vorkommen wird – es sei denn, die WHO tötet im tropischen Afrika und Südamerika noch die letzte Mücke oder jeden anfälligen Affen. Der Erreger der Lyme-Krankheit oder Borreliose ist eine Bakterienart, die sich sehr effektiv in Weißfußmäusen und anderen kleinen Säugetieren versteckt. Natürlich verbergen sich solche Erreger nicht absichtlich . Sie leben dort und verbreiten sich so, weil sich diese mehr oder weniger zufälligen Umstände in der Vergangenheit für sie als günstig erwiesen haben und ihnen Überleben und Fortpflanzung ermöglichten. Nach der darwinistischen Evolutionslogik werden Zufälle in Strategien festgeschrieben.
Die unauffälligste Strategie besteht darin, sich in einem sogenannten Reservoirwirt zu verstecken. Ein Reservoirwirt (manche Wissenschaftler bevorzugen auch den Begriff »Hauptwirt«) ist ein Lebewesen, das den Erreger in sich trägt und auf Dauer beherbergt, selbst aber kaum oder gar nicht erkrankt. Wenn eine Krankheit zwischen den Epidemien zu verschwinden scheint (wie Hendra nach 1994), müssen die Erreger ja irgendwo bleiben, oder? Vielleicht sind sie in der betreffenden Region ausgestorben und tauchen erst wieder auf, wenn Wind und Schicksal sie von anderswo erneut heranwehen. Vielleicht treiben sie sich aber auch ganz in der Nähe in einem Reservoirwirt herum. Ein Nagetier? Ein Schmetterling? Ein Vogel? Eine Fledermaus? In einem Reservoirwirt unerkannt zu bleiben, ist vermutlich am einfachsten, wenn die biologische Vielfalt groß und das Ökosystem relativ unbeeinträchtigt ist. Auch das Umgekehrte stimmt: Ökologische Störungen haben zur Folge, dass Krankheiten auf der Bildfläche erscheinen. Einen Baum braucht man nur zu schütteln, dann fällt alles Mögliche herunter.
Die Erreger nahezu aller Zoonosen gehören zu sechs Kategorien: Viren, Bakterien, Pilze, Protisten (eine Gruppe kleiner, kompliziert gebauter Lebewesen wie die Amöben, früher irreführend auch Protozoen genannt), Prionen und Würmer. Der Rinderwahnsinn wird von Prionen hervorgerufen, seltsam gefalteten Proteinmolekülen, die andere Moleküle dazu anregen, ebenfalls diese Form anzunehmen. Die Schlafkrankheit entsteht durch die Infektion mit einem Protisten namens Trypanosoma brucei , der im mittleren und südlichen Afrika von Tsetsefliegen zwischen Wildtieren, Nutztieren und Menschen hin und her getragen wird. Der Erreger des Milzbrands, ein Bakterium, kann jahrelang im Boden schlummern und dann, wenn es aufgescheucht wird, Menschen auf dem Weg über ihre Weidetiere infizieren. Toxocariasis ist eine milde Zoonose, die durch Fadenwürmer hervorgerufen wird;
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